Schwellentheorie
Das Bundesgericht produziert mit einem neuen Urteil einen Prüfungsfall zur Schwellentheorie (BGer 6B_916/2019 vom 05.03.2020).
Dem Beschwerdeführer war vorgeworfen worden, er habe versucht, mehrere Familienangehörige umzubringen. Das Kantonsgericht VS hatte den Sachverhalt wie folgt zusammengefasst:
Die Vorinstanz stellt fest, der Beschwerdeführer habe am 25. März 2017 morgens in einem deutlich alkoholisierten, durch Drogen beeinflussten und wütenden Zustand, nach einem Streit mit seiner Ehefrau, zunächst die WC-Türe mit dem Fuss beschädigt und dann entschieden, seine Ehegattin sowie eines seiner Kinder mit seiner Waffe zu erschiessen. Er habe den Karabiner, den Verschluss sowie sieben Patronen geholt und sich auf das Sofa gesetzt. Der Beschwerdeführer habe seiner Ehegattin seinen Entschluss mit der Waffe in der Hand eröffnet und den Karabiner gleichzeitig für die Schussabgabe vorbereitet. Die stark verängstigte Ehegattin habe die Wohnungstüre einen Spalt breit geöffnet und sei mit den zwei Kindern ins Elternschlafzimmer geflüchtet. Sie habe die zwei dazwischenliegenden Türen verschlossen, was aber ihre Flucht durch den Wohnungseingang verunmöglicht habe. Die Ehegattin und die Kinder seien in der Falle gewesen. Der Beschwerdeführer, der die Waffe vor mehreren Jahren zum letzten Mal gebraucht habe, habe aufgrund seines alkoholisierten Zustands und des Drogenkonsums Mühe gehabt, den Karabiner bereit zu stellen. Dementsprechend habe er lange an der Waffe herum hantiert. Er habe das Gewehr, den Verschluss und die Munition behändigt, welche an verschiedenen Orten aufbewahrt gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe den Verschluss in den Karabiner eingesetzt. Unmittelbar neben ihm auf dem Sofa hätten sich sieben Patronen befunden. Der Karabiner sei gespannt gewesen. Der Beschwerdeführer habe nicht auf das Klingeln an der Eingangstüre reagiert. Die Polizeibeamten hätten die Wohnung durch die geöffnete Tür betreten können. Sie hätten den Beschwerdeführer im Wohnzimmer mit der Waffe in der Hand auf einer Couch sitzend vorgefunden, was sie zu einem unverzüglichen Eingreifen veranlasst habe. Nachdem der Beschwerdeführer die Warnung “Waffe” eines Polizisten gehört habe, habe er versucht aufzustehen, sei aber durch die Beamten gewaltsam arretiert worden. Die Agenten hätten ihm das Gewehr entzogen und ihm Handschellen angelegt (Urteil S. 22 f. E. 3.15). Die Vorinstanz führt aus, sie gehe “in dubio pro reo” davon aus, dass der Beschwerdeführer nach Einsetzen des Verschlusses aus eigener Einsicht von seinem Vorhaben, seine Ehegattin und ein Kind zu erschiessen, wieder abgerückt sei (Urteil S. 23 E. 3.15) [E. 1.2].
Entscheiden Sie selbst, bevor Sie die nachfolgend zitierte Argumentation des Bundesgerichts lesen:
Das Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe die Schwelle zum Versuch nicht überschritten, ist angesichts des von der Vorinstanz erstellten Sachverhalts begründet. Diese geht zu Unrecht davon aus, mit dem Vorbereiten der Waffe habe der Beschwerdeführer mit der Ausführung der Tat, dem angekündigten Erschiessen seiner Familienmitglieder begonnen. Sie nimmt weiter an, er habe sich, nachdem er den Verschluss in den Karabiner eingesetzt habe, dazu entschlossen, sein Vorhaben doch nicht umzusetzen. Unter den von der Vorinstanz festgestellten Tatumständen ist nicht von einem (mehrfachen) Tötungsversuch auszugehen. Der Beschwerdeführer sass auf der Couch und hatte damit angefangen seine Waffe schussbereit zu machen. Zuvor hatte er den Karabiner, den Verschluss und sieben Patronen geholt. Als er nach dem Einsetzen des Verschlusses in das Gewehr – gemäss Feststellungen der Vorinstanz – von seinem Tatentschluss abrückte, hatte er noch nicht mit der Ausführung der Tat begonnen. Das Einsetzen des Verschlusses in die Waffe war nicht der letzte entscheidende Schritt auf dem Weg zur Tatbestandsverwirklichung. Das Gewehr, das der Beschwerdeführer in der Hand hielt, als er festgenommen wurde, war nicht schussbereit. Er hätte es noch laden müssen. Sodann hätte er sich noch zu seinen Familienmitgliedern begeben müssen, die sich im elterlichen Schlafzimmer verschanzt hatten, wobei er zwei verschlossene Türen zu überwinden gehabt hätte. Der blosse Entschluss eine strafbare Handlung zu begehen, ist nicht strafbar. Mithin kann vorliegend offenbleiben, ob der Beschwerdeführer tatsächlich den Entschluss gefasst hatte, seine Ehefrau und eines seiner Kinder zu erschiessen. Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen mehrfacher versuchter Tötung verletzt Bundesrecht (E. 1.5).
Wohl ein klassischer Fall von strafbaren Vorbereitungshandlungen.
Das sehe ich gleich, wie das BGer. Aber evt. könnte man eine Drohung subsumieren.
@THomas Lieven: ich sehe es auch wie das BGer. Habe mich über den Entscheid gefreut und auch ein wenig gewundert.