Schwierig zu begründende Urteile brauchen Zeit
Eine wegen mehrfachen Mords durch das Geschworenengericht Zürich verurteilte Beschwerdeführerin wartet seit 15 Monaten auf die schriftliche Begründung des angefochtenen Urteils. Sie beantragte erfolglos die Aufhebung der Sicherheitshaft wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots. Das Bundesgericht begründet die lange Dauer für die Anfertigung der Urteilsbegründung damit, dass
weder ein Geständnis noch andere eindeutig für die Schuld der Beschuldigten sprechenden Beweise, sondern lediglich eine Vielzahl von Indizien (E. 4.4),
vorliegen. Dies stelle
besonders hohe Anforderungen an die Beweiswürdigung und dementsprechend auch an die Begründung des Urteils (E. 4.4)
Dem kann ich – ohne den Fall zu kennen – nur zustimmen. Es ist immer schwierig, Schuldsprüche zu begründen, die auf blossen Indizien beruhen und vor der Unschuldsvermutung kaum standhalten. Hervorragende Gerichtsschreiber können sowas aber, wenn sie genügend Zeit haben.
Das Bundesgericht musste aber in erster Linie übergangsrechtliche Fragen klären. Entgegen den Erwägungen des Obergerichts, das auf die Beschwerde nicht eintrat, stellt das Bundesgericht klar, dass neues Recht anwendbar war und ist. Im Ergebnis bestätigt es aber die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft:
Anwendbares Recht:
Davon zu unterscheiden sind jedoch Gesuche um Anordnung von bzw. Entlassung aus der Sicherheitshaft. Diese fallen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht unter die Ausnahme gemäss Art. 453 StPO, sondern sind entsprechend dem Grundsatz von Art. 448 Abs. 1 StPO ab dem 1. Januar 2011 nach der Schweizerischen Strafprozessordnung zu beurteilen (vgl. Urteil 1B_99/2011 vom 28. März 2011 E. 1.2; …). Gleiches muss auch gelten, wenn ein Gesuch um Anordnung oder um Entlassung aus der Sicherheitshaft von einem Gericht erster Instanz beurteilt wird: Auch hier ist nicht die Ausnahmebestimmung von Art. 450 StPO anwendbar, sondern der Grundsatz von Art. 448 Abs. 1 StPO, wonach Zwangsmassnahmen ab dem 1. Januar 2011 nach neuem Recht beurteilt werden (E. 2.1).
Beschwerderecht:
Gemäss Art. 222 StPO kann die verhaftete Person Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft grundsätzlich bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Art. 231 Abs. 1 StPO enthält keine Ausnahme von diesem Grundsatz. Dies spricht dafür, dass auch gegen Haftentscheide des erstinstanzlichen Gerichts Beschwerde geführt werden kann (E. 2.2).
Das Bundesgericht erachtete es als “sinnvoll”, Art. 233 StPO auch auf die Geschworenengerichte anzuwenden. Damit gelangt das Bundesgericht zum Ergebnis, dass der Präsident des Geschworenengerichts tatsächlich zur Abweisung des Haftentlassungsgesuchs zuständig war:
Die Regelung der StPO ist auf die neue Zuständigkeitsordnung zugeschnitten und berücksichtigt nicht die besondere Stellung der (in der StPO nicht mehr vorgesehenen) Geschworenengerichte. Diese entscheiden grundsätzlich als einzige kantonale Instanz (von der Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht abgesehen). Es erscheint daher sinnvoll, für diese besondere – und nur noch für eine kurze Übergangszeit mögliche – Konstellation Art. 233 StPO analog heranzuziehen (E. 2.2).
Nun sind aber Haftentlassungsgesuche vor Begründung der Verfahrensherrschaft vom Gesamtgericht und nicht vom Instruktionsrichter zu entscheiden (Art. 231 StPO). Damit wäre das Geschworenengericht und nicht dessen Präsident zuständig gewesen. Aber auch das erscheint dem Bundesgericht nicht praktikabel:
Allerdings ist auch diese Bestimmung nicht auf die Besonderheiten des Zürcher Geschworenengerichts zugeschnitten, das sich aus einem Präsidenten, zwei Richtern und neun Geschworenen zusammensetzt (§§ 50 ff. des Zürcher Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13. Juni 1976 i.V.m. § 210 des Zürcher Gesetzes über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess vom 10. Mai 2010 [GOG]). Es ist klarerweise unpraktikabel, das gesamte Geschworenengericht (einschliesslich Geschworenen) über nachträgliche Haftentlassungsgesuche entscheiden zu lassen. In dieser Situation erscheint es bedenkenswert, übergangsrechtlich die Zuständigkeit für Haftentlassungsgesuche beim Vorsitzenden des Geschworenengerichts zu belassen, der nach kantonalem Recht für den Entscheid über die Fortdauer der Sicherheitshaft zuständig war und deshalb auch den Haftentscheid gegen die Beschuldigte vom 26. März 2010 getroffen hat. Ansonsten bestünde die Möglichkeit, Art. 198 Abs. 1 lit. b StPO heranzuziehen (E. 3.2).
Aber eigentlich spielte all dies gar keine Rolle, zumal die Feststellung der Verletzung des Beschleunigungsgebot nicht beantragt wurde und zumal auch eine Verletzung des Gebots nur ausnahmsweise (bei drohender Überhaft) zur Haftentlassung führt:
Die Dauer der zu erwartenden Strafe ist für die Frage von Bedeutung, ob eine Überhaft i.S.v. Art. 212 Abs. 3 StPO droht. Im vorliegenden Fall wurde die Beschuldigte erstinstanzlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die seit 24. Dezember 2007 andauernde Haft, die im angefochtenen Entscheid bis zum 20. Dezember 2011 verlängert wurde, ist daher noch nicht in grosse zeitliche Nähe der konkret zu erwartenden Dauer der Freiheitsstrafe gerückt (E. 4.3)
Das Bundesgericht erachtet die bisher verstrichenen 15 Monate seit Urteilsfällung wie gesagt nicht als übermässig. Es stehe eine lebenslängliche Freiheitsstrafe im Raum und es gebe weder ein Geständnis noch andere eindeutig für die Schuld der Beschuldigten sprechenden Beweise:
Die Beschwerdeführerin rügt denn auch nur die übermässige Dauer des Verfahrensabschnitts zwischen Urteilsfällung und -begründung. Tatsächlich waren im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids bereits 15 Monate seit der Urteilsfällung verstrichen. Diese Dauer ist lang, kann aber per se noch nicht als übermässig erachtet werden. Hierfür kann auf die im angefochtenen Entscheid (E. 4.3) dargestellten Vergleichsfälle aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verwiesen werden. Der Beschwerdeführerin ist auch zu widersprechen, wenn sie meint, es bestehe keinerlei Zusammenhang zwischen der Komplexität des Strafverfahrens und der für die Begründung des Strafurteils angemessenen Dauer: Geht es um einen Mordvorwurf und steht eine lebenslängliche Freiheitsstrafe im Raum, gibt es aber weder ein Geständnis noch andere eindeutig für die Schuld der Beschuldigten sprechenden Beweise, sondern lediglich eine Vielzahl von Indizien, sind besonders hohe Anforderungen an die Beweiswürdigung und dementsprechend auch an die Begründung des Urteils zu stellen (E. 4.4, Hervorhebungen durch mich).
ich sehe keinen einleuchtenden fairen grund, warum man einem gericht mehr als 12 monate für die ausfertigung des schriftlichen urteils geben müsste?
Der liegt ja gemäss Bundesgericht in der schwierigen Beweiswürdigung (die ja aber hoffentlich vor dem Urteil erfolgt ist).