Sechs Monate Gefängnis nach verpasster Einsprachefrist
Im Kanton Zürich wurde ein Ladendieb auf frischer Tat ertappt und nach einer Einvernahme im Strafbefehlsverfahren zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Nachdem er die Einsprachefrist verstreichen liess, mandatierte er einen Anwalt und versuchte erfolglos, die verpasste Frist wieder herstellen zu lassen. Dies begründete er mit seinen mangelnden Sprachkenntnissen. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Vorinstanzen das Wiederherstellungsgesuch zu recht abgewiesen hatten (BGer 6B_390/2020 vom 23.07.2020). Die Begründung des Bundesgerichts überzeugt. Zweifel kommen erst am Schluss seiner Erwägungen auf:
Es ist gestützt auf diese Umstände nicht willkürlich, wenn die Vorinstanz davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer in der Lage war, den Inhalt des Strafbefehls zu verstehen. Aus dem Umstand, dass in früheren Verfahren eine Übersetzung erforderlich war und dem Beschwerdeführer in einem ausländerrechtlichen Verfahren mit Blick auf die Integration ungenügende sprachliche Fähigkeiten attestiert wurden, lässt sich nicht ableiten, dass er auch im vorliegenden, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht komplexen Verfahren, auf eine Übersetzung angewiesen war (E. 1.4, Hervorhebungen durch mich).
Was hat denn die Komplexität des Verfahrens mit den sprachlichen Fähigkeiten zu tun? Auch beim “Verschulden” bin ich nicht sicher, ob das Argument des Bundesgerichts schlüssig ist:
Schliesslich durfte die Vorinstanz davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer, welcher seit über zehn Jahren in der Schweiz lebt, mit der Zeit gewisse sprachliche Fortschritte erzielt und ausserdem Personen in seinem Umfeld hat, die ihm bei der Übersetzung des Strafbefehls hätten behilflich sein können. Der Beschwerdeführer hätte zudem gegenüber den Behörden signalisieren können, dass er eine Übersetzung benötigt hätte. Er blieb in dieser Hinsicht jedoch untätig. Somit kann sich der Beschwerdeführer vorliegend nicht darauf berufen, ihn treffe keinerlei Verschulden in Bezug auf die verpasste Einsprachefrist. Der vorinstanzliche Entscheid verletzt daher kein Bundesrecht (E. 1.4, Hervorhebungen durch mich).
Was mir an diesem Fall nicht klar ist: wäre es nicht der Sachrichter gewesen, der die Frage nach der fristgerechten Einsprache hätte behandeln müssen? Hier war es so, dass die Staatsanwaltschaft das Wiederherstellungsgesuch abgewiesen hat, wogegen dann Beschwerde geführt wurde. Ist der Strafbefehl nun trotzdem rechtskräftig?
Und was der Fall ganz nebenbei auch noch zeigt: Sechs Monate Freiheitsstrafe ohne formelle Verteidigung sind rechtsstaatlich inakzeptabel.
Tatsächlich ist es doch etwas fragwürdig, dass die Staatsanwaltschaft das Wiederherstellungsgesuch abgewiesen hat. In der StPO ist festgehalten, dass bezüglich Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache das Gericht entscheiden muss. Meines Erachtens hängt das Gesuch um Fristwiederherstellung ebenfalls mit der Thematik der Einsprache zusammen und müsste vom Gericht entschieden werden.
Nein, Gesuche um Fristwiederherstellung sind – wenn die Einsprachefrist gegen einen Strafbefehl verpasst wurde – bei der StA zu stellen (94 II). Eine Einsprache hingegen bekannterweise direkt beim Strafgericht. Gesetzlich ist halt so… sinnvoll finde ich es ebenfalls nicht.
@s: alles richtig. Aber wenn die StA abweist, dann würde ich das doch nicht anfechten. Überhaupt verstehe ich die Idee mit der Fristwiederherstellung in dieser Konstellation nicht. Wieso sollte man das machen? Wieso sollte die StA gutheissen?
Stimmt Sie haben völlig Recht. Das war wohl zu viel out-of-the-box-Denken meinerseits 🙂
Die versäumte verfahrenshandlung war die einsprache und diese ist bei der sta einzureichen. Entsprechend war die sta zuständig, darüber zu befinden, ob die frist wiederherzustellen ist (art. 94 abs. 2 stpo). Eine andere frage ist, ob die frist überhaupt verpasst und die einsprache dementsprechend ungültig war. Darüber müsste das erstinstanzliche gericht entscheiden und die sta müsste die prüfung der wiederherstellung sistieren. Da hier aber offenbar unstrittig war, dass die frist verpasst wurde und somit die ungültigkeit der einsprache feststand, war der weg über das gericht entbehrlich.
Man hätte hier wohl auch argumentieren können, dass gemäss Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK eine Pflicht zur Übersetzung des Strafbefehls bestanden hätte, der Strafbefehl also nicht rechtsgülitg eröffnet worden war und die Einsprachefrist damit noch nicht abgelaufen ist. Der Beweis der rechtsgenüglichen Eröffnung i.S.v. Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK obliegt den Strafverfolgungsbehörden. Damit hätte die Staatsanwaltschaft die Einsprache dem Gericht überweisen und das (in diesem Fall eventualiter) gestellte Fristwiederherstellungsgesuch wohl sistieren müssen. Ob dies erfolgreicher gewesen wäre steht allerdings in den Sternen….
@Magda Zihlmann: Genau. So wäre die Sache erfolgversprechender gewesen. Ich habe selbst übrigens noch nie ein Fristwiederherstellungsgesuch gemacht, sondern einfach immer die Rechtzeitigkeit und damit die Gültigkeit des Strafbefehls behauptet. Das war vielleicht ja immer falsch, aber funktioniert hat es immer, jedenfalls in dem Sinn, dass der Richter über Gültigkeit der Einsprache entschieden hat.
Sehe ich auch so. Am besten immer Einsprache machen, wenn man das Gefühl bzw. einen Grund hat, dass die Frist doch nicht verpasst wurde. Dann kann das Gericht darüber entscheiden. Den Schritt mit der Fristwiederherstellung sehe ich – auch in der Praxis – nicht wirklich als zielführend an.
Es heisst: “Nachdem er die Einsprachefrist hatte verstreichen lassen, …” (Vorzeitigkeit). Bitte.
Zum Substantiellen kann ich hingegen momentan nichts beitragen, vielleicht später…
Ich muss gestehen das ich diesen Fall einen Kontakt bei der AI übermittelt habe und hoffe im Bericht für 2020 wird das aufgenommen. Das Urteil überzeugt nicht und hätte nach meiner Meinung Chancen in Strasbourg.
Es kann ja wohl nicht sein das eine der Sprache nicht fähige Person eine Frist von nur 10 Tagen ablaufen lässt um dann für 6 Monate hinter Schweizerischen Gardinen zu verweilen. Solche Entscheide wie die “Story” mit der Dame aus dem Balkan die von einem Obergericht eine falsche Rechtsmittelbelehrung erhalten hatte und das oberste Schweizerische Gericht dann meinte, die Dame hätte ins Gesetz schauen könnte, sind ein Skandal und wird nach meiner Empfindung immer mehr.