Sicherheitshaft nach erstinstanzlichem Freispruch
Sicherheitshaft nach erstinstanzlichem Freispruch ist grundsätzlich EMRK-widrig. Das anerkennt nach EGMR, I.S. gegen die Schweiz (vgl. meinen früheren Beitrag), auch das Bundesgericht, weist in einem aktuellen Fall den Antrag auf Haftentlassung aber trotzdem ab und gibt der Vorinstanz (Präsidentin OGer GL) auf, Ersatzmassnahmen anzuordnen und zu prüfen, ob Auslieferungshaft möglich wäre (BGer 1B_45/2021 vom 02.03.2021, Fünferbesetzung).
Der hier zu beurteilende Fall liegt im Wesentlichen gleich wie jener, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 6. Oktober 2020 zu Grunde liegt. Das Kantonsgericht hat den Beschwerdeführer vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung und des qualifizierten Raubes freigesprochen und ihn lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Freiheitsentzug kann daher nicht auf Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK gestützt werden. Mit dem erstinstanzlichen Urteil des Kantonsgerichts endete zudem grundsätzlich die Haft nach Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK. Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK ist im vorliegenden Fall, in dem sich der Beschwerdeführer seit dem Freispruch 6 Monate in Sicherheitshaft befindet, ebenso wenig anwendbar. Die schriftliche Begründung des Urteils des Kantonsgerichts umfasst 110 Seiten. Dieses hat sich einlässlich mit den verschiedenen Beweismitteln, insbesondere den Aussagen mehrerer Befragter, auseinandergesetzt. Der Fall ist in beweismässiger Hinsicht ausserordentlich heikel und der Ausgang des Berufungsverfahrens erscheint als offen. Von einem “irrtümlichen” Freispruch des Kantonsgerichts kann in Anbetracht dessen eingehender Beweiswürdigung jedoch nicht gesprochen werden. Ein Fall, in dem trotz erstinstanzlichen Freispruchs die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft mit Art. 5 EMRK vereinbar sein könnte, liegt hier demnach ebenso wenig vor wie in jenem in Sachen I.S.. Auch dort erkannte der Gerichtshof keine Anzeichen für einen “irrtümlichen” Freispruch (§ 53). Ernstliche Anhaltspunkte dafür, dass bei einer Freilassung des Beschwerdeführers die unmittelbare Gefahr einer schweren, konkreten und bestimmten Straftat bestünde, welche das Leben, die körperliche Integrität oder erheblich Güter beeinträchtigen könnte, sind sodann nicht erkennbar. Die weitere Belassung des Beschwerdeführers in Sicherheitshaft widerspräche hier demnach wie im Fall I.S. Art. 5 Ziff. 1 lit. a-c EMRK (E. 3.4).