Sinnentleertes Siegelungsverfahren

Das Bundesgericht beseitigt letzte Zweifel daran, dass Verteidigungsrechte über dem Interesse an der sogenannten Wahrheitsfindung stehen könnten. In einem neuen, zur Publikation vorgesehenen Urteil heisst es eine Beschwerde der Bundesanwaltschaft gegen ein abgewiesenes Entsiegelungsgesuch gut und betont gleich mehrfach, dass die Verfahrensgrundrechte der Beschuldigten (bspw. “nemo tenetur”) restriktiv zu handhaben bzw. anzuwenden seien (BGE 1B_249/2015 vom 30.05.2016).

In der Sache geht es um ein von einer Bank zuhanden der FINMA erstelltes Memorandum mit Beilagen. Nachdem die FINMA das Memo nicht zur Verfügung stellen wollte, hat es die BA bei der beschuldigten Bank (versiegelt) sichergestellt. Der Grund für die Weigerung von FINMA lässt sich dem Urteil wie folgt entnehmen:

Dem Ersuchen der BA auf Herausgabe des Memorandums leistete die FINMA mit Schreiben vom 12. April und 19. Juli 2013 (gestützt auf Art. 40 FINMAG) keine Folge. Die FINMA begründete dies mit der “sehr hohen Kooperationsbereitschaft”, welche sie (als Aufsichtsbehörde) von der beschuldigten Bank erwarte. Eine Herausgabe des Memorandums durch die FINMA würde deren Aufsichtstätigkeit “auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen” (E. 8.14).

Der heikelste Teil des Urteils ist aber wohl die restriktive Anwendung (d.h. die Nichtanwendung) von nemo tenetur. Natürlich ist nicht zu beanstanden, dass Beweismittel beschlagnahmt werden können, zu deren Herausgabe eine Beschuldigte nicht gezwungen werden kann. Wenn es sich aber um ein Memorandum handelt, die zuhanden einer Aufsichtsbehörde angefertigt wurde (oder sogar werden musste), stellen sich die verfassungsrechtlichen Fragen aber eben trotzdem. Das Bundesgericht geht aber von folgendem Grundsatz aus:

Zwar gilt das strafprozessuale Verbot des Selbstbelastungszwangs grundsätzlich auch für beschuldigte  juristische Personen. Der “nemo tenetur”-Grundsatz ist jedoch in dem Sinne  restriktiv zu handhaben, dass der aufsichtsrechtliche und strafprozessuale Zugriff auf Unterlagen, welche das beschuldigte Unternehmen aufgrund verwaltungsrechtlicher (insbesondere konzessionsrechtlicher) Gesetzesvorschriften erstellen, aufbewahren und dokumentieren muss, nicht unterlaufen werden kann (BGE 140 II 384 E. 3.3.4 S. 392 f. mit Hinweisen). Zu diesen Vorschriften gehören auch die Dokumentationspflichten von Banken nach der Geldwäschereigesetzgebung (BGE 140 II 384 E. 3.3.4 S. 393) [E. 8.3.3].

Damit ist das nachfolgende Ergebnis bereits vorgezeichnet:

Bei strafrechtlich beschuldigten juristischen Personen, insbesondere bei Banken, welche den dargelegten Gesetzesvorschriften des GwG unterliegen, ist das Selbstbelastungsprivileg (im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK) im Übrigen differenziert und restriktiv anzuwenden: Die Berufung auf dieses Grundrecht darf nicht dazu führen, dass der (in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO und Art. 7 Abs. 2 GwG) gesetzlich vorgesehene strafprozessuale Zugriff auf Unterlagen, welche die beschuldigte Bank aufgrund der Geldwäschereigesetzgebung erstellen, aufbewahren und ausreichend dokumentieren muss,  faktisch unterlaufen werden kann (BGE 140 II 384 E. 3.3.4 S. 392 f.; vgl. auch GUNTHER ARZT, Schutz juristischer Personen gegen Selbstbelastung, JZ 2003, S. 457 ff.; GÜNTER HEINE, Das kommende Unternehmensstrafrecht, ZStrR 121 [2003] 24 ff., S. 43;  derselbe, Praktische Probleme des Unternehmensstrafrechts, SZW 2005 S. 17 ff., 21 f.; PATRICK KRAUSKOPF/KATRIN EMMENEGGER, in: Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], Praxiskommentar VwVG, 2. Aufl., Zürich 2016, Art. 13 N. 70; NADINE QUECK, Die Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes zugunsten von Unternehmen, Berlin 2005, S. 271 ff.) [E. 8.18.3].

Ich bin gespannt auf den Text, der dann letztlich publiziert wird.