Sparen bei den Freigesprochenen
In der Schweiz wird immer wieder diskutiert, ob ein Beschuldigter, der freigesprochen oder dessen Verfahren eingestellt wird, Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen für seine Verteidigung hat. Was die Diskussion überhaupt erst ermöglicht ist die Formulierung von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO (Entschädigung nur für die „angemessene Ausübung“ der Verfahrensrechte).
Bei Lichte besehen kann es jedenfalls nach Erlass eines Strafbefehls oder nach Anklageerhebung überhaupt keine Frage sein, dass sich die beschuldigte Person anwaltlich vertreten lassen sollte und dafür bei entsprechendem Ausgang des Verfahrens auch zu entschädigen ist. Einerseits ist zu beachten, dass die Strafverfahren von hochspezialisierten Behörden geführt werden, die nichts anderes machen und daher sogar einem nicht auf Straf- und Strafverfahrensrecht spezialisierten Anwalt, geschweige denn einem juristischen Laien, regelmässig weit überlegen sein sollten. Andererseits sollte die Justiz auch redlich genug sein, auch dann noch zum dialektischen Verfahren der Wahrheitsfindung zu stehen, wenn es um die Entschädigung der anderen Seite, der Verteidigung, geht.
Das Obergericht des Kantons Solothurn hat jüngst versucht, die zu Unrecht beschuldigte Person auf ihren Verteidigungskosten sitzen zu lassen. Das Bundesgericht lässt dies allerdings nicht zu (BGer 6B_800/2015 vom 06.04.2016):
2.5. Der vorliegende Sachverhalt ist vergleichbar mit jenem, der BGE 138 IV 197 zugrunde lag. Dort wurde gegen den Beschwerdeführer Anzeige erstattet, weil er auf einem Hundespaziergang einen Personenwagen mit einer Plastikauszugsleine zerkratzt habe, wobei ein Parkschaden in der Höhe von Fr. 1’142.30 (zzgl. 8 % MWSt.) entstanden sei, worauf die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren wegen Sachbeschädigung eröffnete. Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer angezeigt, weil er einen Personenwagen beschädigt habe, als er einen Anhänger von Hand vom angrenzenden Parkplatz zog, wobei ein Parkschaden von rund Fr. 1’000.– entstanden sei. Weiter wurde ihm vorgeworfen, er habe den Unfallort verlassen, ohne seinen Namen und seine Adresse anzugeben oder die Polizei zu verständigen.
Zwar handelt es sich bei der Sachbeschädigung im Sinne von Art. 144 Abs. 1 StGB um ein Vergehen (Art. 10 Abs. 3 StGB), während es vorliegend um einfache Verkehrsregelverletzungen gemäss Art. 90 Abs. 1 SVG und damit bloss um Übertretungen ging (Art. 103 StGB). Deswegen dürfte ein durchschnittlicher juristischer Laie aber kaum einen massgeblichen Unterschied zwischen den beiden Vorwürfen erblicken, zumal nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Trichotomie der Straftaten allgemein bekannt ist. Zudem wurde das Verfahren im vom Beschwerdeführer angerufenen BGE 138 IV 197 nach drei Einvernahmen eingestellt. Im vorliegenden Fall beauftragte der Beschwerdeführer erst einen Anwalt, nachdem er einen Strafbefehl erhalten hatte.Gewiss liegt der konkrete Vorwurf auch im zu beurteilenden Fall am unteren Rand der Schwelle, welche die Beiziehung eines Anwalts rechtfertigen kann. Doch ist nach dem Gesagten nicht ersichtlich, weshalb die vorliegende Konstellation anders zu beurteilen wäre als der Sachverhalt, welcher BGE 138 IV 197 zugrunde lag.2.6. Nichts anderes ergibt sich, wenn man den vorliegenden Fall den Urteilen 1B_536/2012 vom 9. Januar 2013 und 6B_209/2014 vom 17. Juli 2014 gegenüberstellt. Auch in jenen beiden Fällen wurde erst ein Anwalt beigezogen, nachdem ein Strafbefehl wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln ergangen war.In diesem Zusammenhang ist zu präzisieren, dass es bei der Beurteilung der Angemessenheit der Beiziehung eines Anwalts nur auf Umstände ankommen kann, die im Zeitpunkt der Mandatierung bekannt waren. So kann es keine Rolle spielen, wie lange das Verfahren in der Folge noch dauerte oder mit welcher Hartnäckigkeit es von der Staatsanwaltschaft weiterverfolgt wurde (vgl. aber Urteil 6B_209/2014 vom 17. Juli 2014 E. 2.2 f.). Im vorliegenden Fall ist demzufolge unbeachtlich, ob die Untersuchung und Auswertung der Mikrospuren auf Bestreben des Anwalts oder von Amtes wegen erfolgten (vgl. aber angefochtener Entscheid S. 5).
Noch nicht entschieden ist die Höhe der angemessenen Entschädigung. Hier kann das Obergericht ja einen Teil der verursachten Zusatzkosten, die ein Vielfaches der verweigerten Entschädigung ausmachen, wieder wettmachen.
Zutreffender Kommentar kjs. Offen bleibt für einen Aussenstehenden, warum keine Genugtuung gefordert oder bezahlt wird: Der Angeklagte war vor der staatanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung wiederholt seiner Freiheit entzogen worden (3 Einvernahmen); die beiden Bedingungen Verfahrenseinstellung und Freiheitsentzug reichen seit 2011 kumulativ für einen Anspruch auf Genugtuung aus.
Bei einer Einvernahme handelt es sich um keinen Freiheitsentzug.
Das sehe ich aber anders.
Das wäre in der Tat eine Interessante Frage, gibt es Rechtssprechung dazu ob die Einvernahme als Freiheitsentzug gewertet wurde.
Dann ist vor Gericht erscheinen auch Freiheitsentzug ? Den Grundsätzlich werden ja die gleichen Folgen angedroht wie bei der Einvernahme.
Bin gl. M. wie Nido: Einvernahme ist nicht Freiheitsentzug (vgl. BSK-StPO, 2. Aufl. 2014, Art. 429 N 27).
RN: In der Schweiz ist eine Einvernahme eines Staatsanwaltes und eines Polizisten mit Zwangsmitteln unterlegt und deshalb ein Freiheitsentzug, der – bei Vorliegen der anderen Voraussetzungen wie hier – eine Genugtuung zu Gunsten eines letztinstanzlich Freigesprochenen begründet. Der Einvernommene ist nicht frei, den Ort seines Aufenthaltes zu wählen. Er wird gezwungen, das Einvernahmegebäude aufzusuchen und nicht zu verlassen, andernfalls muss er damit rechnen, dass gegen ihn staatlich legitimierte Gewalt angewendet wird (Vorführung).
In anderen Jurisdiktionen wird dies teilweise anders gehandhabt, in Deutschland etwa besteht keine Präsenzpflicht für Polizeieinvernahmen.
Was ist die Begründung? Gibt es entsprechende Entscheide?
Die Vorladung ist eine Zwangsmassnahme, weil sie mit Erscheinungspflicht verbunden ist, welche die persönliche Freiheit beschränkt. Wieso soll denn das kein Freiheitsentzug sein? Habe jetzt aber BSK nicht konsultiert.
Freiheitsentzug und Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist nicht ganz das gleiche (vgl. dazu auch Urteile 1C_354/2013 E. 3.3 und 6B_962/2008 E. 3.2).
Ob eine Vorladung Genugtuungsansprüche auslösen kann, hängt vom Einzelfall ab. Namentlich ist wohl die Dauer und Intensität des Entzugs der Bewegungsfreiheit massgebend. I.d.R. dürfte daher bei einer „normalen“ Einvernahme wohl noch kein (genugtuungsauslösender) Freiheitsentzug vorliegen, auch wenn es sich bei der Vorladung um eine Zwangsmassnahme handelt.
Danke für den Hinweis. Es stellt sich m.E. nur die Frage, wie schwer der Eingriff in die persönliche Freiheit ist. Dass ein Freiheitsentzug vorliegt, kann ja wirklich nicht mit Gründen verneint werden (ich sehe keine). Freiheitsentzug heisst deshalb noch lange nicht, dass ein Genugtuungsanspruch entsteht.
Danke Kevin: Weil sich der Genugtungsanspruch nach Freiheitsentzug im Sinn der StPO aus StPO Art 429 Abs 1 Bst c ableitet, begründet 1C_354/2013 E. 3.3 altrechtlich (nur mit Verweis auf BGE 136 I 87 E6.5.2). 6B_962/2008 E. 3.2 behandelt die Frage n.m.L. nicht, begründet jedenfalls altrechtlich. Zustimmung zur Einzelfallerwägung.
Leider liegt mir der BSK StPO von 2014 gerade auch nicht zur Hand. Falls jemand Zeit und Lust hat, einen Blick darauf zum obigen Artikel zu werfen, wäre das sehr hilfreich und im Voraus verdankt.