Sperrwirkung einer falschen Teileinstellung
Das Bundesgericht legt dar, dass ein fehlerhafter Teileinstellungsentscheid zur Sperrwirkung von “ne bis in idem” führen kann (BGer 6B_653/2013 vom 20.03.2014). Es erinnert daran, dass Gegenstand auch einer Einstellung nur ein Lebenssachverhalt und nicht die rechtliche Würdigung sein kann:
Eine solche Teileinstellung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn mehrere Lebensvorgänge oder Taten im prozessualen Sinn zu beurteilen sind, die einer separaten Erledigung zugänglich sind. Soweit es sich hingegen nur um eine andere rechtliche Würdigung ein und desselben Lebensvorgangs handelt, scheidet eine teilweise Verfahrenseinstellung aus (…). Wegen ein und derselben Tat im prozessualen Sinn kann nicht aus einem rechtlichen Gesichtspunkt verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt werden. Es muss darüber einheitlich entschieden werden (E. 3.2).
Zu den hier verhinderten fatalen Folgen einer falschen Teileinstellung:
Da es insoweit allein darum geht, wie die dem Beschwerdegegner zur Last gelegte Tat rechtlich zu würdigen ist, besteht im Lichte der vorstehenden Ausführungen kein Raum für eine Teileinstellung des Verfahrens. Würde anders entschieden, könnte das Sachgericht – was die Vorinstanz und der Beschwerdegegner verkennen – das Verfahren trotz hängiger Einsprache gegen den Strafbefehl nach Eintritt der Rechtskraft der Teileinstellungsverfügung nicht weiterführen. Es müsste das Verfahren wegen des Grundsatzes “ne bis in idem” und der Sperrwirkung der materiellen Rechtskraft der Einstellungsverfügung vielmehr ebenfalls einstellen. Dem Sachgericht wäre es mithin verwehrt, den in Frage stehenden Lebensvorgang statt als blosse sexuelle Belästigung rechtlich als sexuelle Nötigung oder versuchte Vergewaltigung zu würdigen und den Beschwerdegegner deswegen zu verurteilen. Aus den gleichen Gründen fiele auch ein allfälliger Freispruch ausser Betracht. Die Staatsanwaltschaft hätte es deshalb beim Erlass des Strafbefehls vom 30. August 2012 bewenden lassen müssen. Die Teileinstellung wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung erweist sich als bundesrechtswidrig (E. 3.3).
Wie hätte das Bundesgericht wohl entschieden, wenn die Teileinstellung unangefochten geblieben wäre und sich der Beschuldigte auf ne bis in idem berufen hätte?
Angenommen, die Untersuchung wegen versuchter Vergewaltigung wäre sehr aufwändig gewesen. Es hätten teure Gutachten eingeholt werden müssen (vgl. Kachelmann) und der Beschuldigte hätte zwingend einen Anwalt nehmen müssen (130 StPO): wie hätte man dann diese Verfahrenskosten ausgeschieden, bevor man den Strafbefehl wegen sexueller Belästigung eröffnet? Eine Teileinstellung erscheint mir insofern der beste Weg für den Beschuldigten. Zudem kennen viele Kantone eine Genehmigungspflicht, wenn Teile des Verfahrens eingestellt werden sollen. Diese könnte m.E. so umgangen werden, indem man einfach einen Strafbefehl wegen einer Übertretung ausspricht, ohne dass man sich dafür erklären muss, warum die schwereren Vorwürfe nicht weiterverfolgt werden. So einleuchtend der Entscheid auf den ersten Blick ist, ganz bis zu Ende gedacht scheint er mir nicht…
Zu Ende denken wird der Staatsanwalt, der von der Vergewaltigung zur Nötigung zurückbuchstabiert. Am Entscheid des Bundesgerichts führt m.E. kein Weg vorbei.
Es geht hier nicht – wie das Bundesgericht schreibt – um eine andere rechtliche Würdigung. Es geht darum, ob ein Sachverhaltselement erfüllt ist, ob Gewalt eingesetzt wurde. Es muss – schon aus Gründen der Effizienz (s. Erstkommentar) – möglich sein, die Untersuchung einzustellen, soweit dem Beschuldigten vorgeworfen wird Gewalt (im Sinne der relevanten Strafbestimmungen) eingesetzt zu haben.
Ob eine Handlung als Nötigungsmittel, z.B. Gewalt, zu qualifizieren ist oder nicht, ist doch aber eine Rechtsfrage, keine Tatfrage. Daher ist der Entscheid des Bundesgerichts richtig.
Bei allen damit verbundenen Problemen: tito hat Recht.
@tito Mit Beantwortung der Rechtsfrage wird aber ein Sachverhaltselement verneint und diese Tat eingestellt. Nur dies wird meiner Ansicht nach auch der Geschädigten gerecht. So kann sie sich gegen die Einstellung wehren und eine Anklage erzwingen. Was nämlich, wenn die Staatsanwaltschaft im konkreten Fall ohne Einstellung der beanzeigten Gewalttat einen Strafbefehl wegen einer Übertretung erlässt, auf Einsprach hin daran festhält und das Gericht die daraus resultierende Anklage zum Urteil erhebt? Da wird es doch schwierig eine Beschwer der Geschädigten zu konstruieren, wenn doch das Urteil der Anklage in allen Teilen folgt. Jedenfalls müsste man auch hier die bisherige Praxis zur Beschwer wohl auf den Kopf stellen.
Die am Ende gestellte Frage ist nun beantwortet: http://relevancy.bger.ch/php/aza/http/index.php?lang=de&zoom=&type=show_document&highlight_docid=aza%3A%2F%2F04-12-2015-6B_1056-2015
Erwägung 1.4 verstehe ich allerdings nicht: “Vielmehr ergibt sich, dass für die Einstellungsverfügung kein Raum blieb, diese daher nicht hätte erlassen werden dürfen und deshalb dem Strafbefehl nicht entgegenstehen kann.” Das ändert ja nichts daran, dass die Einstellung eben doch erging und in Rechtskraft erwuchs. Das ist ein etwas weiter Nichtigkeitsbegriff.
Das Bundesgericht hat es sich im ganz neuen Entscheid sehr einfach gemacht. Es äussert sich weder zur Rechtskraft noch zur Nichtigkeit.