Stationäre Massnahme verhältnismässig
Jedes staatliche (und mittlerweile offenbar auch jedes private) Handeln muss verhältnismässig sein. Verhältnismässig ist korrekt, kann nie schlecht oder gar falsch sein. Verhältnismässigkeit ist das grosse Zauberwort, das alles rechtfertigt.
Das Problem liegt darin, dass viele, die den Begriff verwenden, keine Ahnung haben, was er denn eigentlich bedeutet. Sie verwechseln Verhältnismässigkeit mit Vernunft und gesundem Menschenverstand oder verwenden ihn tautologisch.
Davon auszunehmen ist die Justiz, die den Begriff der Verhältnismässigkeit juristisch verwendet (Art. 5 BV) und ihn aufdröselt in Eignung, Notwendigkeit und Zumutbarkeit. Damit tut sich aber selbst das Bundesgericht mitunter schwer (BGer 6B_146/2017 vom 27.07.2017). In einem heute publizierten Fall bin ich unsicher:
[Der Beschwerdeführer] geht insbesondere mit keinem Wort auf die hohe Rückfallgefahr für schwere Straftaten gegen die sexuelle Integrität von Kindern und Jugendlichen ein, womit die Vorinstanz die Notwendigkeit einer stationären Massnahme in erster Linie begründet. Zwar mag zutreffen, dass seine Reintegrationschancen bei einer ambulanten Massnahme im offenen Vollzug besser wären. Dies genügt aber nicht, um eine stationäre Massnahme als unverhältnismässig erscheinen zu lassen (E. 2.2. Hervorhebungen durch mich).
Dem Bundesgericht scheint die Notwendigkeit der Prävention auszureichen. Ist das wirklich so? Prävention ist doch mindestens so gut mit der Freiheitsstrafe (und einer ambulanten Therapie) zu erreichen.
Eine mildere, die Freiheit weniger beschränkende (ambulante) Massnahme, die zielführender ist, güngt nicht, um eine strengere, die Freiheit gänzlich aufhebende (stationäre) Massnahme als unverhältnismässig erscheinen zu lassen?
Das übersteigt meine Vernunft.
Wie sähe die StPO wohl aus, wenn sie vom Bundesgericht verfasst würde? Die Unschuldsvermutung und das Anklageprinzip hat es faktisch bereits abgeschafft.
Nun macht es sich offenbar daran, die Verhältnismässigkeit gerade dort (im Massnahmenrecht) auszuhölen, wo es sie eigentlich als höchstrichterliche Institution dieses Landes besonders stärken müsste.
Leben wir noch in einem freiheitlichen Rechtsstaat?
Abgesehen von den rechtlichen Fragen hat das Bundesgericht offenbar erst teilweise erfasst, wie sehr das Massnahmenrecht von der kantonalen Justiz zu rein präventiven Zwecken missbraucht wird. Es wäre dringend nötig, in diesem Bereich besser hinzusehen, was übrigens auch für das Gros der Strafverteidiger gilt, die auch noch daran glauben, stationäre Behandlungen seien auch im Interesse des Klienten. Das sind sie höchstens in ganz seltenen Ausnahmen. Ich habe in meiner Praxis noch keine solche Ausnahme gesehen.
Nimmt man sich die Mühe und liest nicht nur selektiv, was man lesen will, dann heisst es in E. 2.2 doch auch deutlich, dass nebst einem hohen Rückfallrisiko und der Schwere der zu erwartenden künftigen Straftaten das Behandlungsbedürfnis des Beschwerdeführers, insbesondere nach einer langjährigen Psychotherapie, gutachterlich attestiert ist.
Das ist die eigentliche Begründung. Was im Blog zitiert wird, ist hingegen eine auf der Begründung aufbauende Entgegnung zu den Vorbringen des Beschwerdeführers, die nur für sich betrachtet problematisch erscheint.
Wenn es ein Problem gibt, dann ist es das vom Gesetz angelegte Vertrauen in Gutachten. Die kantonale Justiz hat in diesem Bereich kaum mehr etwas zu sagen. Sagt das Gutachten, es werde eine stationäre Massnahme empfohlen, dann wird diese in aller Regel auch ausgesprochen…
Das habe ich durchaus gelesen, ändert aber m.E. nichts an der Fragestellung. Ich glaube, dass die Notwendigkeit, den Mann allein wegen der Legalprognose zu Präventionszwecken wegzusperren, wenn die stationäre Behandlung im Hinblick auf die „Heilung“ nicht als notwendig erscheint. Warum nicht einfach Freiheitsstrafe mit begleitender ambulanter Therapie? Das wäre verhältnismässig.
Die kantonale Justiz hätte übrigens durchaus etwas zu sagen, wenn sie nur wollte. Eine gutachterliche Empfehlung kann ja nur medizinisch begründet sein. Der Richter hat juristisch zu begründen und das ist bekanntlich nicht dasselbe. Meistens fehlt es schon am juristischen Begriff der schweren psychischen Störung. Das ist der Grund, warum unsere 59er-Einrichtungen voll sind mit Menschen, die „erstaunlich normal“ sind. Die schwere Störung kann man verneinen, ohne vom Gutachten abzuweichen.
Die ausgewiesene Behandlungsbefürftigkeit betrifft in erster Linie die Erforderlichkeit und die Eignung der Massnahme. Ein Gutachten äussert sich doch immer auch dazu, ob eine schwere Störung vorliegt. Wenn medizinisch eine schwere Störung diagnostiziert wird, dann wird es nur sehr selten Fälle geben, wo nachvollziehbar begründet werden kann, dass das dann aber juristisch noch gar nicht schwer ist. Darüber kann man sich aber natürlich trefflich streiten.
„Erstaunlich normal“
Dazu die Zitate aus dem kritisierten Urteil:
– vollzogener, ungeschützter Geschlechtsverkehr mit einem 9-jährigen Mädchen
– mehrfache Schändungen zum Nachteil von fünf weiteren Mädchen (Alter von 2-8 Jahren bzw. 10-12 Jahren)
– mehrfache versuchte anale Penetration
– Delikte zogen sich über mehrere Jahre hin
– hohe Rückfallgefahr für schwere Straftaten gegen die sexuelle Integrität von Kindern und Jugendlichen
Erstaunlich normal?
Jedenfalls kein Psychopath. Seine Taten sind grauenvoll und abscheulich, aber das heisst noch lange nicht, dass er eine stationäre Massnahme braucht.
Naja, und um nochmals zum Weltlichen bzw. auf den Punkt zurück zu kommen: Hauptsache, es wird immer mehr „absolute Sicherheit“ gefordert und niemand will dafür bezahlen… 😉