Strafantrags-Rückzugsfiktion
Es gibt einen Fall, in dem der Gesetzgeber eine Rückzugsfiktion zugunsten der Beschuldigten vorgesehen hat. Es handelt sich um die Fiktion des Rückzugs des Strafantrags nach Art. 316 Abs. 1 StPO.
Einen solchen Fall hat das Bundesgericht heute veröffentlicht (BGer 7B_129/2022 vom 19.07.2023):
Der Beschwerdeführer wurde zur Vergleichsverhandlung vorgeladen. Darauf hin erklärte er, nicht an einem Vergleich interessiert zu sein. Weiter ergibt sich aus dem angefochtenen Entscheid, dass der Beschwerdeführer eine Ansteckung mit Covid-19 befürchtete, weil der Beschuldigte angeblich ein Impfgegner sei und dass er die Reise von U. nach V. als unverhältnismässig lange erachtete (vgl. angefochtener Entscheid S. 6). Die Staatsanwaltschaft hielt unter Hinweis auf die Rückzugsfiktion gemäss Art. 316 Abs. 1 Satz 2 StPO zweimal an der Vorladung fest. Nachdem der Beschwerdeführer trotz Kenntnis um die Rückzugsfiktion nicht zur Vergleichsverhandlung erschienen war, ging die Staatsanwaltschaft berechtigterweise vom Rückzug des Strafantrages aus und stellte das Verfahren ein. Es lag nicht im Belieben des Beschwerdeführers, zur Vergleichsverhandlung zu erscheinen, welche die Staatsanwaltschaft anberaumt hat. Vielmehr galt die unbedingte Erscheinenspflicht nach Art. 205 StPO (…) und hätte er sich die Argumente der Behörde anhören müssen, welche für einen Vergleich sprechen. Seine Abwesenheit gilt als unentschuldigt. Abgesehen von seiner vorgängigen Äusserung, sich nicht vergleichen und ganz allgemein nicht nach V. reisen zu wollen, standen keine absoluten Hindernisse für einen Vergleich im Raum. Vielmehr machen Vergleichsverhandlungen zwischen zwei unbekannten Parteien in einer Angelegenheit, bei welcher es um ehrverletzende Äusserungen geht, grundsätzlich einen Sinn. Der angefochtene Entscheid, welcher die Verfahrenseinstellung der Staatsanwaltschaft zufolge Rückzugsfiktion schützt, erweist sich angesichts der dargelegten bundesgerichtlichen Praxis als bundesrechtskonform (E. 2.2.4).
Stossend ist wie alle andren auch diese Fiktion, und zwar auch aus Sicht eines Strafverteidigers. Das Gesetz sollte m.E. nicht zu Vergleichsverhandlungen zwingen, wer nicht vergleichen will.
Da sind wir ausnahmsweise mal vollkommen einer Meinung! Eine gesetzgeberische Frechheit sondergleichen – und beileibe nicht die einzige…
Ehrverletzungsdelikte gehören ohnehin abgeschafft. Eine rein zivilrechtliche Aufarbeitung einer Ehrverletzung reicht m.E. völlig aus. Der Aufwand für die Justiz für solche Delikte steht in keinem Verhältnis zum öffentlichen Nutzen.
Ich kann die Empörung über die Rückzugsfiktion bei StPO 316 I nicht teilen.
Wer eine Ehrverletzung derart wichtig nimmt, dass er die Sache vor der Staatsanwaltschaft oder Gericht ausfechten will, dann treffen ihn – m. E. zu Recht – gewisse Mitwirkungspflichten. Die strafrechtliche Vergleichsverhandlung ist in solchen Konstellationen ein starkes Instrument, welches regelmässig mehr zur Befriedigung der Situation beiträgt, als es eine Verurteilung (oder ein Freispruch) je könnte. Ohne das Damoklesschwert der Rückzugsfiktion käme aber ziemlich sicher nur noch ein Bruchteil dieser Vergleiche zustande, weil die Antragssteller wohl oft gar nicht erst erscheinen würden, ob jetzt aus Faulheit, Bosheit oder auch nur aus Mangel an Einsicht in die eigenen Interessen.
Das sehe ich genau auch so.