Strafbare Tatnähe durch Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
Das Bundesgericht geht mit dem Bestimmtheitsgebot von Strafbestimmungen weiterhin grosszügig um. In einem aktuellen Entscheid verlangt es aber für die Anwendung von Art. 2 Al-Qaïda/IS-Gesetz immerhin eine gewisse “Tatnähe” (BGE 6B_120/2021 vom 11.04.2022, Publikation in der AS vorgesehen), was auch immer darunter zu verstehen ist. Die gewisse Tatnähe begründet das Bundesgericht laut Medienmitteilung wie folgt:
Die Beschwerdeführerin lebte während mehrerer Monate in der Gemeinschaft und mit der finanziellen Unterstützung des IS, zunächst in einer nach Geschlechtern getrennten Unterkunft und danach in einer eigenen Wohnung mit ihrem Bruder. Dort übernahm sie die nach den Regeln des IS für eine Frau vorgesehene Rolle im Haus; sie bedeckte sich mit einer Vollverschleierung, war für den Haushalt und das Wohl ihres Bruders zuständig, unterrichtete Kinder in Englisch und nahm als Mitglied der Gesellschaft am Leben des IS teil. Die von der Rechtsprechung geforderte Tatnähe des Handelns zu den verbrecherischen Aktivitäten des IS ist damit gegeben.
Welcher Tat stand die damals 15-Jährige denn nun nahe? Im Entscheid erfolgt dazu höchstens noch folgende negative Abgrenzung:
Nicht erforderlich ist im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes demgegenüber, dass die inkriminierte Tätigkeit direkt auf die Förderung der vom IS verübten Gewaltstraftaten ausgerichtet ist, da das Al-Qaïda/IS-Gesetz die Gruppierung “Islamischer Staat” als solches verbietet (vgl. Art. 1) und Art. 2 Abs. 1 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes in der Generalklausel explizit jede Förderung der Aktivitäten des IS unter Strafe stellt. Unerheblich ist für den Schuldspruch, ob das Verhalten der Beschwerdeführerin unter die Tathandlung der “Beteiligung am IS” oder der “personellen Unterstützung” oder unter die Generalklausel der “Förderung auf andere Weise” im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes fällt (vgl. Urteil 6B_948/2016 vom 22. Februar 2017 E. 4.2.2). Darin, dass sich die Vorinstanz diesbezüglich nicht festlegt, liegt entgegen der Kritik der Beschwerdeführerin keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, da das Verhalten in allen Fällen nach Art. 2 Abs. 1 des Al-Qaïda/IS-Gesetzes strafbar ist (E. 7.4, Hervorhebungen durch mich).
Welche Tatbestandsvariante erfüllt ist, spielt keine Rolle. Strafbar ist eben strafbar, oder: alles ist strafbar.
“Welche Tatbestandsvariante erfüllt ist, spielt keine Rolle. Strafbar ist eben strafbar, oder: alles ist strafbar.”
Amen.
Das Al-Qaïda/IS-Gesetz und der Umgang des Bundes- und Bundesstrafgerichts damit ist eines Rechtsstaates unwürdig. Es ist bedenklich, wie stark die Rechtsprechung in den betreffenden Urteilen die Sache vom Ende her denkt und sich über das Bestimmtheitsgebot hinwegsetzt.
Wenn man Oligarchenvermögen nachspüren und sie einfrieren kann (was immer auch “einfrieren” sein soll), ohne dass sie aus irgendeinem nachgewiesenen oder auch nur behaupteten Delikt stammen, dann kann man auch die blosse Betätigung einer pönalisierten Gesinnung durch Leben in der entsprechenden Gemeinschaft unter Strafe stellen… für einmal sehe ich die Sache ähnlich wie der Blogger
Der Rechtsstaat schafft sich selber ab. Es lebe das Gesinnungsstrafrecht. Es kommen ganz üble Zeiten auf uns zu.