Strafbare Worte Gottes?
Das Bundesgericht weist die Beschwerde des Imams ab, der für seine Äusserungen in einer Freitagspredigt in der An’Nur-Moschee in Winterthur wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit i.S.v. Art. 259 Abs. 1 StGB verurteilt worden war (BGer 6B_288/2019 vom 08.07.2019; vgl. auch die Medienmitteilung zu diesem Entscheid).
Was der Staat und sein Strafrecht in einem Freitagsgebet zu suchen hat, mag mir wie auch anderes in diesem Fall nicht so recht einleuchten. Das Urteil des Bundesgerichts enthält Hinweise, dass es vielleicht noch aussichtsreichere Rügen gab als diejenigen, die ihm vorgelegt wurden (vgl. dazu E. 2.1.2).
Nicht klar aus dem Entscheid hervor geht, wie die Strafbehörden überhaupt in den Besitz des Wortlauts der Predigt gekommen sind. Offenbar spielte eine anonymisierte Dolmetscherin eine entscheidende Rolle. Die Rügen gegen die Übersetzungen (!) – später betont das Bundesgericht, diese seien inhaltlich gar nicht bestritten – wurden aber abgewiesen.
Spannend fand ich primär die Argumentation, dass der Imam ja nur Äusserungen Gottes oder des Propheten zitiert habe. Gemäss Bundesgericht ist es aber strafbar, die zur Gewalt auffordernden Worte Gottes unkommentiert zu zitieren und sie somit gutzuheissen:
Entgegen seiner Darstellung verblieb den gläubigen Empfängern seiner Ausführungen angesichts deren Urheberschaft, namentlich Gottes oder des Propheten Mohamed, auch kein relevanter Interpretations- oder Ermessensspielraum, zumal der Beschwerdeführer seine Äusserungen nicht kommentierte oder interpretierte. Der in diesem Zusammenhang erhobene Einwand, wonach nur eigene Kommentare der Zitate als Aufforderung zu Gewalttätigkeiten gelten könnten, geht fehl. Im Gegenteil: Indem er als Imam die Worte Gottes, des Propheten Mohamed oder hoher Gelehrter, mithin der grösstmöglichen religiösen Autoritäten, unkommentiert liess, brachte er zum Ausdruck, dass sie deren ureigenem Willen entsprechen würden und im Übrigen offensichtlich auch, dass er diese Auffassung teilte, wobei es auf letzteres für die Tatbestandserfüllung ohnehin nicht ankommt. Dass der Beschwerdeführer die zitierten Äusserungen guthiess, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass eines der von ihm wiedergegebenen Zitate mit den Worten “ihr solltet wissen” beginnt. Der anschliessende Aufruf, wonach getötet werden müsste, wer nicht in der Gemeinschaft betet, richtet sich seinem Wortlaut nach zudem gerade nicht an die (ohnehin abwesenden) Gläubigen, die nicht in der Gemeinschaft beten, sondern an diejenigen die dies tun. Er ist daher entgegen der Meinung des Beschwerdeführers sowie gegebenenfalls des Gutachters nicht bloss als Ermahnung an säumige Gläubige zu deuten. Jedenfalls kann er unter den gegebenen Umständen von einem gläubigen Muslim als Handlungsaufforderung zu einem genügend bestimmten Tun verstanden werden. Gleiches gilt für den Appell, Menschen in ihren Häusern zu verbrennen, weil sie sich [im Gebet] von der Gemeinschaft ferngehalten haben. Im Übrigen zeigt der Beschwerdeführer nicht auf und ist nicht ersichtlich, wie, wenn nicht als direktes Zitat von Gottes Wort oder des Propheten Mohamed eine eindringliche Handlungsaufforderung für einen gläubigen Muslim seiner Meinung nach konkret aussehen sollte. Dies gilt auch, soweit es um Handlungsweisen geht, die hohe Schriftgelehrte verlangt oder befürwortet haben sollen. Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, ist ebenfalls irrelevant, in welcher sprachlichen Form oder graphischen Darstellung die Ausführungen erfolgten. Wären Wortmeldungen im Konjunktiv per se nicht strafbar, wie der Beschwerdeführer argumentiert, liesse sich der Tatbestand ohne Weiteres umgehen. Er behauptet denn auch nicht, die Worte seien nicht ernst gemeint gewesen, was bei einer Predigt ohnehin nicht überzeugend wäre. Unerfindlich ist auch, aus welchen (guten) Gründen die erwähnten Äusserungen ebenso gut neutral interpretiert werden könnten. Der Beschwerdeführer nennt weder solche Gründe noch bietet er eine neutrale Interpretation an. Seiner wiederholt geäusserten Auffassung zum Trotz würde das vorstehend Gesagte schliesslich ebenso für vergleichbare, unkommentierte Zitate aus dem alten Testament gelten (E. 2.1.2, Hervorhebungen durch mich).
Der Imam hätte offenbar sagen müssen, dass den Worten Gottes nicht zu folgen sei. Die Beschwerde wurde übrigens in Dreierbesetzung abgewiesen.
Es ist mir auch aufgefallen, dass das Urteil in Dreierbesetzung erging. Ok, dies stellt gemäss Art. 20 BGG die Regel dar. Aber: Über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder auf Antrag eines Richters/einer Richterin wird in Fünferbesetzung entschieden. Hier ging es um die Frage, ob das blosse unkommentierte Zitieren von zu Gewalt aufrufenden Worten Gottes – oder eben Mohammeds – den Tatbestand von Art. 259 StGB erfüllen könne. Die Frage wurde nach meinem Kenntnisstand noch nie gerichtlich entschieden, schon gar nicht vom Bundesgericht. Man hätte somit durchaus von einer „grundsätzlichen Bedeutung“ ausgehen können. Es ist schon in weitaus banaleren Fällen die Fünferbesetzung zusammengetrommelt worden. Aber nein, die Herren betrachteten den Fall nicht als „grundsätzlich“, sondern als „aussichtslos“ und verweigerten die unentgeltliche Rechtspflege. Die Begründung der Abweisung der aussichtslosen Beschwerde nahm dann allerdings doch drei Seiten in Anspruch….
@Jürg Fehr: in der Tat ein schwer verständliches Urteil.
Sachverhalt C: Bibel-Verleger Y soll am 23. Oktober 2016 im Rahmen des öffentlichen Verkaufs der Heilgen Schrift anlässlich einer Sonntagspredigt in der St-Josephs-Kirche in Winterthur vor ca 60 Personen zu Gewaltdelikten aufgerufen haben. Namentlich habe er gedruckt, dass, wenn jemand bei einem Mann liege wie bei einer Frau, so hätten sie getan, was ein Gräuel sei, und sie sollten beide des Todes sterben; dass du Zauberinnen nicht am leben lassen sollest; dass jeder, der mit einem Tier verkehre, den Tod verdient habe; dass Gott doch die Gottlosen töten wolle; und dass, wenn eine Jungfrau verlobt sei und ein Mann sie innerhalb der Stadt treffe und ihr beiwohne, ihr alle beide zum Stadttor hinausführen und beide steinigen sollet, dass sie sterben würden, die Jungfrau, weil sie nicht geschrieen habe, obwohl sie doch in der Stadt gewesen sei, den Mann, weil er seines nächsten Braut geschändet habe.
Das Urteil enthält weder eine Beurteilung, ob die Predigt darauf gerichtet war, zu einer rechtswidrigen Aktion anzustacheln oder sie zu produzieren, noch einen Test der Wahrscheinlichkeit der Einleitung durch den Beschwerdeführer einer solchen rechtswidrigen Aktion. Beides sind notwendige Bedingungen, damit eine Ausnahme zur Redefreiheit bei gewaltbefürwortender Rede in Betracht kommt. Sonst könnte jeder jüdische Theologe, der im Fernsehen die Beschneidung vertritt, angeklagt werden. Weiter:
“Hingegen ist unerfindlich, weshalb erst die Weglassung dieses Hinweises (dh dass Gott oder eine menschliche religiöse Autorität die Gewalt in SV A befehle – pd) die Ausführungen als Aufforderung qualifizieren sollte, wie der Beschwerdeführer meint” (E2.2.1 Schluss). Der Satz “Tötet Muslime, die sich weigern, in der Gemeinschaft zu beten” ist eine Aufforderung, “Gott hat gesagt, “tötet Muslime, die sich weigern, in der Gemeinschaft zu beten” (SV A. i.v.M. E 2.2.1 Satz “Dies …”)” nicht. Nur der zweite Satz (und analoge Stellen in SV A; das Urteil sagt nirgends genau, ob die Quelle Gott, Mohamed oder islamische Rechtsgelehrte ist) war aber Bestandteil des vorgeworfenen Sachverhalts, der erste nicht.
Das Gericht hat die aktenkundige Rüge, es liege keine Aufforderung und damit ein fehlendes Tatbestandsmerkmal im vorgehaltenen Art 259 Abs 1 vor, nicht verstanden und konnte sie deshalb bei der Urteilsfällung nicht berücksichtigen. Da das Gericht dies durch das Wort “unerfindlich” selbst einräumt, öffnet es hier dem Beschwerdeführer nach BGG Art 121 Abs d. den Weg zur Revision.
Daran, dass die Rüge durchdringt, besteht meines Erachtens kein Zweifel: Ein christlicher Pfarrer und ein Rabbi kann die ganze Bibel und die ganze Tora in seiner Predigt einbauen; dass darin auch Passagen zur Gewalt gegen Ungläubige und abweichend Handelnde aufrufen, ist bekannt. Das gleiche gilt, wie hier, für einen Prediger einer anderen Weltreligion und für seine Schrift. Davon, dass die Winterthurer Predigt jenes Oktobertags auf die Produktion spezifischer rechtswidriger Gewalt gerichtet sei und solche wahrscheinlich bevorstehe, lese ich nirgends etwas. Das wirksame Gegenmittel gegen unerwünschte Rede sind nicht Schweigegebote, sondern mehr Rede. Der Gesetzgeber kann keine Gesetze erlassen, die die freie Ausübung einer Religion behindern, und davon profitieren wir alle.
Nebenbei: Ich konnte weder das Urteil der Vorinstanz noch der Erstinstanz auf der zugehörigen Website finden, beide Datumseingaben ergaben keine Treffer. Falls das Folgende auch für die Urteile der unteren Instanzen stimmt: Da hier offfenbar ein reines Redeverbrechen während eines einzigen Tages (SV A) in einer Fremdsprache (E1.1 2. Satz) angeklagt ist, stellen sich m.E. aus prozessualer Sicht zwei weitere Fragen:
Erstens, warum die dem Urteil zu Grunde liegende Übersetzung, die leicht wiederzugeben wäre, und deren Wortlaut ja wohl entscheidend ist für die nachvollziehbare Beurteilung des Tatbestandes, im publizierten Urteil nirgends vorkommt, und warum ich zweitens nichts von einer Gelegenheit zur Konfrontation mit der ihn entscheidend belastenden Übersetzerin lese, die dem Beschwerdeführer und seinem Anwalt zustand.
Auch in einem Freitagsgebet gilt das Strafrecht und der Staat hat es nicht hinzunehmen, wenn dort zu Gewalt aufgerufen wird. Was ich absolut nicht verstehen kann ist, dass ein Aufruf zu Gewalt verwerflich sein soll, es aber total okay zu sein scheint, wenn dieser Aufruf mit Bezug auf einen Gott oder eine Religion, die dies (vermeintlich) gebieten, untermauert wird. Sorry, aber ich finde es immer noch wichtig, dass Staat und Kirche getrennt sind und wir einen säkularen Staat haben, auch wenn dies vielleicht nur im Grundsatz so ist und nicht total stringent durchgehalten wird (siehe Landeskirchen). Ich sehe auch nicht ein, weshalb mögliche andere Fälle von solchen Predigern, welche den Strafbehörden nicht bekannt wurden, einen Prediger, welcher erwischt wurde (der zitierte Fall), entlasten sollen. Im Übrigen ist mir kein Fall bekannt, in welchem ein Priester der katholischen Kirche oder ein evangelischer Pfarrer/eine Pfarrerin in einer Predigt heutzutage vergleichbare Zitate gebracht hätten. Der Vergleich ist so zu ziehen und es können nicht irgendwelche dubiosen Strassenprediger, welche vielleicht auch schon Bibelzitate verkündet haben, herangezogen werden. Und ja, die Begründung des Bundesgerichts fällt vielleicht kurz aus. Aber nicht jeder noch so aussichtslose Fall muss bis ins Detail begründet werden. Zu bedenken ist hier, dass uns die Aktenkenntnis fehlt und wir nur die Spitze des Eisberges sehen (Entscheid des BG).
@Säkularius:
Die Religionsfreiheit garantiert Schweizerinnen und Schweizern Rechte, die über diejenigen hinausgehen, die ohne sie gelten würden. Wer würde sie in der Verfassung verankern wollen, wäre ihr Effekt überhaupt keiner?