Strafbefehl c. Rechtsstaatsprinzip

Dass der Strafbefehl praktisch und effizient ist, überwiegt die Überzeugung, dass es rechtsstaatlich unerträglich ist, wenn 95% aller Strafverfahren nie durch ein richterliches Urteil erledigt werden. Man müsste eigentlich erwarten, dass ein Höchstgericht das Rechtsstaatsprinzip in den Grenzen des effizienzgetriebenen gesetzgeberischen Willens verteidigt. Mit einem neuen Entscheid schlägt sich das Bundesgericht aber einmal mehr auf die Seite der Effizienz, indem es die (gesetzeswidrige) Ausstellung von rechtlich unhaltbaren Strafbefehlen fördert. Wer sich begründet dagegen wehrt und zu seinem Recht kommt, muss zahlen.

In einem konkreten Fall hat ein Beschuldigter Einsprache gegen einen Strafbefehl wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln erhoben. Er verlangte die Verurteilung wegen einfacher Verletzung. Die Staatsanwaltschaft hat den Fall sodann an den Einzelrichter überwiesen, der den Beschuldigten wie von ihm beantragt bloss wegen einfacher Verletzung verurteilt hat (Art. 90 Ziff. 1 SVG). Insofern hat der Beschuldigte also vollumfänglich obsiegt. Bezüglich Kosten machte er geltend, es wäre gar nie zum Verfahren vor dem Bezirksgericht gekommen, wenn die Staatsanwaltschaft im Strafbefehl von der korrekten rechtlichen Qualifikation ausgegangen wäre. Dem folgt das Bundesgericht nicht (BGer 6B_367/2012 vom 21.12.2012, Fünferbesetzung). Es stellt aufgrund des Sachverhalts fest, dass der Beschuldigte gar keinen Anspruch auf Erlass eines Strafbefehls hatte:

Angesichts der verfügbaren Beweise konnte der vom Beschwerdeführer behauptete Sachverhalt nicht als klar bezeichnet werden. Vielmehr war von einer umstrittenen Beweislage auszugehen. Der Beschwerdeführer war im Vorverfahren selbst ausgehend von der bezirksgerichtlichen Beweiswürdigung nicht geständig, da er die Geschwindigkeitsüberschreitung bestritt und einzig ein auf die Strasse rennendes Reh für den Unfall verantwortlich machte. Bei dieser Sachlage bestand – auch wenn man Art. 352 Abs. 1 StPO als zwingend betrachtet – kein Anspruch auf Erledigung des Strafverfahrens durch einen Strafbefehl. Der Staatsanwaltschaft kann nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie das Verfahren zur gerichtlichen Beurteilung an das Bezirksgericht überwies. Entsprechend können die erstinstanzlichen Verteidigungskosten nicht als vom Staat verursacht gelten (E. 3.5).

Das Bundesgericht scheint zu übersehen, dass die Staatsanwaltschaft – zu Recht oder zu Unrecht – einen Strafbefehl ausgestellt hat, und zwar einen, der zu korrigieren war. Hätte die Staatsanwaltschaft den Fall richtig beurteilt, hätte das Gerichtsverfahren nicht durchgeführt werden müssen. Dem Beschuldigten nun einfach zu erklären, die Staatsanwaltschaft hätte ja gar keinen Strafbefehl ausstellen dürfen, wird ihm nicht einleuchten können.

An die möglichen Konsequenzen, die der Entscheid haben könnte, hat das Bundesgericht wohl nicht gedacht. Eine Konsequenz ist, dass man sich auch gegen offensichtlich unhaltbare Strafbefehle nur wehren kann, wenn man das nötige Kleingeld zur Verfügung hat. Man muss dafür zahlen, korrekt verurteilt zu werden. Eine andere Konsequenz ist, dass die Staatsanwaltschaft ihre Fälle auch dann mit Strafbefehl erledigen kann, wenn die Voraussetzungen gar nicht vorliegen. Die Sanktion kann dabei noch so hoch sein – wehren wird sich nur, wer es sich leisten kann. Das rechtsstaatlich ohnehin unzulängliche Strafbefehlsverfahren wird durch die Rechtsprechung noch unzulänglicher.