Strafbefehl gegen Unbekannt (PCN yyy)
Nach einem neuen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts ist es möglich, Strafbefehle gegen namentlich unbekannte Personen auszustellen (BGE 6B_1348/2021 vom 27.09.2022, Publikation in der AS vorgesehen; vgl. auch die Medienmitteilung zu diesem Entscheid). Die Person, welche bei ihrer Anhaltung wegen Hausfriedensbruchs ihre Identität nicht nannte und stattdessen einen Aliasnamen angegeben habe, sei aufgrund einer Personenbeschreibung sowie der Nummer ihres erkennungsdienstlichen Profils eindeutig identifizierbar ( “Inconnu[e] xxx, alias B., de sexe féminin, de type caucasien, cheveux bruns, yeux foncés, numéro de profil signalétique: PCN yyy, sans domicile connu”).
Das Bundesgericht setzt sich (einmal mehr) mit der Frage auseinander, ob die Mitwirkung bei der Identifizierung der eigenen Person gestützt auf “nemo tenetur” verweigert werden darf. Es verneint die Frage.
Der Strafbefehl ist gemäss Bundesgericht gültig, solange die beschuldigte Person eindeutig identifizierbar ist, was hier der Fall sei. Umgekehrt war dann aber auch die Einsprache der unbekannten, aber angeblich eindeutig identifizierbaren Person, gültig. Das Einspracheverfahren wird daher weiterzuführen sein.
Das Bundesgericht befürchtete tatsächlich, Straftäter könnten sich der Strafverfolgung durch Verweigerung der Mitwirkung bei der Feststellung ihrer Identität entziehen. Hätte es einen Schritt weitergedacht, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass ein allfälliges Urteil gegen Unbekannt dann auch zu vollstrecken und im Strafregister zu erfassen wäre. Vermutlich geht das Bundesgericht aber davon aus, dass die Person im Verlauf des Verfahrens doch noch identifiziert werden wird.
Auch der Anwalt der Unbekannten führte übrigens Beschwerde. Ihm auferlegte die Vorinstanz nämlich die Kosten. Das Bundesgericht auferlegt seine Kosten trotz Aufhebung des angefochtenen Urteils im Umfang von CHF 1,000.00 dem Anwalt und seiner Klientin unter solidarischer Haftbarkeit. Dafür muss der Kanton VD beiden je CHF 1,000.00 als Entschädigung bezahlen.
Was mich brennend interessieren würde sind die Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesem “profil signalétique: PCN yyy” stellen.
Also sehe ich das richtig, die Unbekannte ist weiterhin anonym, hat sich aber einen Anwalt genommen?
Was ich nicht verstehe:
1. Normalerweise klärt die Polizei die Identität ab. Einen Fake-Namen erkennt sie, weil sie heute mit dem Handy direkt prüfen kann, ob es die Person gibt. Wie konnte die Person davon kommen?
2. Woher weiss die Unbekannte vom Strafbefehl?
3. Gemäss StPO wäre die Polizei verpflichtet gewesen, die Person festzunehmen, wenn sie sie bei oder unmittelbar nach einem Vergehen oder Verbrechen angegroffen hätte. Wieso wurde die Person nicht festgenommen?
Dazu fallen mir noch 1’000 andere Fragen ein:
Wieso muss die Polizei laut StPO eine Person bei jedem Vergehen festnehmen? Das würde ja auch gelten, wenn explizit auf einen Strafantrag verzichtet würde.
@Die Vierte Gewalt: ich verstehe den Sachverhalt auch nur teilweise. Vielleicht klärt uns der Kollege auf?
Ein Strafbefehl darf gemäss Gesetz nur erlassen werden wenn der Sachverhalt eingestanden oder andersweitig hinreichend geklärt ist, wie kann ein Sachverhalt hinreichend geklärt sein wenn der angebliche Täter, anonym somit also nicht ermittelt ist ????
Gut wir wissen alle das Staatsanwälte es einfach mal versuchen, womit das Gesetz wie immer wenn sich der Staat und/oder seine Exponenten daran halten sollten, toter Buchstabe ist, und dies wird von BGE offesichtlich auch noch geschützt, der Staat begünstigt sich halt selbst gerne….
Gutes Argument. Wenn die Identität der beschuldigten Person unklar ist, fehlt es meiner Ansicht nach an einer zentralen Voraussetzung eines Strafbefehls. Das Urteil des Bundesgerichts entspricht deshalb nicht den Vorgaben der StPO.
Darf der Verteidiger auch anonym bleiben?
@DR: müsste m.E. möglich sein, ist es aber natürlich nicht.