Strafbefehl: Grundsatzentscheid zur Zustellfiktion

In einem neuen Grundsatzentscheid klärt das Bundesgericht eine offene Frage im Zusammenhang mit der Zustellfiktion. Es führt aus, dass der Absender bei bekanntem Prozessrechtsverhältnis auf dem Abholschein nicht erkennbar sein muss, um die Zustellfiktion bei Nichtabholung greifen zu lassen.

Es hängt den Beschwerdeführer als Adressat des Strafbefehls somit daran auf, dass auf der Sendung, die er mangels Abholung gar nicht gesehen hatte, erkennbar gewesen wäre, dass sie von der Staatsanwaltschaft stammte (BGE 6B_110/2016 vom 27.07.2016, Publikation in der AS vorgesehen):

Wie der Beschwerdeführer selber ausführt, waren auf dem Briefumschlag der Staatsanwaltschaft deren Bezeichnung und Anschrift mit Postfach, Ort und Postleitzahl erkennbar. Zwar konnte der Beschwerdeführer davon keine Kenntnis mehr nehmen, weil der Brief bereits zurückgesandt worden war, als er ihn abholen wollte. Dies hat er sich aber selber zuzuschreiben, da er erst nach Ablauf der siebentägigen Aufbewahrungsfrist bei der Post erschien. Nicht erforderlich ist, dass der Absender der Sendung auf der Abholungseinladung selbst erkennbar ist. Es reicht aus, wenn die Sendung per Einschreiben erfolgt (vgl. Art. 85 Abs. 2 StPO). Dies war vorliegend der Fall und die beim Beschwerdeführer hinterlegte Abholungseinladung entsprach der üblichen Form (E. 1.6.3).

Hier noch die allgemeinen Ausführungen zur Annahme der Zustellfiktion

Für die Annahme der Zustellfiktion ist vorauszusetzen, dass der Empfänger diejenige Behörde als Absender erkennen kann, mit deren Sendung er rechnen muss. Da sich die prozessuale Pflicht einer Partei auf behördliche Akte derjenigen Behörde beschränkt, zu der sie in einem Prozessrechtsverhältnis steht, muss der Absender eindeutig identifizierbar sein (…).
Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von staatlichen Organen “nach Treu und Glauben behandelt zu werden”. Dies wird schon in Art. 5 Abs. 3 BV im Rahmen der allgemeinen Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns statuiert. Handeln nach Treu und Glauben bedeutet Loyalität und Vertrauenswürdigkeit in allen rechtlichen Beziehungen, wie auch Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des zwischenmenschlichen und staatlichen Verhaltens (…). Diese Grundsätze machen die eindeutige Identifizierbarkeit des behördlichen Absenders notwendig. Staatliche Organe sind zu Loyalität und Vertrauenswürdigkeit in allen Rechtsbeziehungen sowie zu voraussehbarem und berechenbarem Handeln verpflichtet, so dass eine wechselseitige Abstimmung und Koordination des Verhaltens möglich ist (…).
Tritt die Behörde in eine Rechtsbeziehung mit den Bürgern, ohne als Behörde erkennbar zu sein, handelt sie weder voraussehbar noch berechenbar und ermöglicht dem Bürger nicht, sein Verhalten nach seinen prozessualen Pflichten auszurichten. Gibt sich die Behörde als Absender einer Sendung nicht zu erkennen, so kann dem Adressaten nicht vorgeworfen werden, er wäre nach Treu und Glauben verpflichtet gewesen, diese zu empfangen. Vielmehr kann er sich seinerseits auf den Vertrauensschutz berufen, um Verfahrensnachteile abzuwenden. Das Prozessrechtsverhältnis verpflichtet die betroffene Person nicht zur Entgegennahme sämtlicher Post, sondern bloss zur Annahme erkennbarer Sendungen derjenigen Behörde, zu der das Prozessrechtsverhältnis besteht (…) [1.6.2].