Strafbefehlsverfahren in der Kritik
Gemäss Tages-Anzeiger kommt die Strafbefehlskompetenz der Schweizerischen Strafprozessordnung, die am 01.01.2011 in Kraft treten soll, unter Beschuss. Art. 352 StPO sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl erlassen kann, wenn sie eine der folgenden Strafen für ausreichend hält:
a) eine Busse;
b) eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen;
c) eine gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden;
d) eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten.
Voraussichtlich werden damit über ca. 96 % aller Strafverfahren im besonderen Strafbefehlsverfahren erledigt werden. Vor einem Richter erscheinen muss nur noch, wer den Strafbefehl nicht akzeptiert. Darauf verzichten übrigens etliche Unschuldige, bloss um zu vermeiden, an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung teilnehmen zu müssen.
Abgesehen davon, dass das Strafbefehlsverfahren rechtsstaatlich unhaltbar ist, droht es, das Strafrecht weitgehend zu bagatellisieren. Die Kritik von NR Primin Bischof erscheint als berechtigt. Unschön ist die mit ihr notwendigerweise verbundene Forderung, die StPO zu ändern, bevor sie in Kraft tritt (vgl. dazu seine Motion 09.3494). Damit verbunden sind erhebliche Unsicherheiten bezüglich der Gerichtsorganisation, welche die Kantone im Hinblick auf das Inkrafttreten der StPO (und im Übrigen auch der Schweizerischen Zivilprozessordnung) anpassen müssen.
Auf das Strafbefehlsverfahren zu verzichten hiesse dann ja, die ordentlichen Gerichte mit einer Fallzunahme von 96% zu belasten, was dann zwar rechtsstaatlich vielleicht haltbar, aber wohl kaum dem Steuerzahler zuzumuten wäre…
Er erscheint hingegen plausibel, dass die Gefahr einer Bagatellisierung besteht. Da die Politiker derzeit aber emsig dabei sind – angestachelt durch die Medien – diverse Strafrahmen drastisch zu verschärfen, könnte das Strafbefehlsverfahren aufgrund seiner begrenzten Strafkompetenz alsbald wieder an Bedeutung verlieren.
“Rechtsstaatlich unhaltbar”? Eine sehr kühne Behauptung bezogen auf ein Verfahren, das meines Wissens in allen oder den meisten Kantonen schon jahrelang zum Einsatz kommt, ohne dass der Schweiz deswegen ihrer Rechtsstaatlichkeit verlustig gegangen wäre. Denn der so Bestrafte kann ja eine Gerichtsverhandlung verlangen, wenn er mit dem Strafbefehl nicht einverstanden ist.
Kein Argument gegen das Strafbefehlsverfahren ist der Umstand, dass Unschuldige bisweilen den Strafbefehl akzeptieren, nur um eine Verhandlung zu vermeiden. Denn so haben sie immerhin die Wahl des aus ihrer Sicht kleineren Übels – eine Wahl, die sie ohne Strafbefehlsverfahren nicht hätten. Gegen das Strafbefehlsverfahren kann man daher nicht den Schutz der Angeschuldigten, sondern allenfalls das öffentliche Interesse an einer transparenten und damit korrekten, kontrollierbaren und vorhersehbaren Strafjustiz anführen. Dass der Gesetzgeber dieses Interesse gegen die Kosten gerichtlicher Verfahrens abwägt, ist allerdings legitim.
Nicht ganz überrascht bin ich von dem Umstand, dass hier ein rechts stehender Politiker, eine Tageszeitung und ein Strafverteidiger gegen das Strafbefehlsverfahren ins Felde ziehen – also alles Leute, denen ich zwar keinerlei böse Absicht unterstellen will, aber denen ein Partikularinteresse an möglichst vielen schlagzeilenträchtigen bzw. aufwändigen Strafprozessen wohl nicht ganz abzusprechen ist.
Wer wie unser Gesetzgeber alle Problemchen unserer Gesellschaft mit neuen Strafnormen lösen will, müsste eigentlich auch bereit sein, die Mehrkosten zu tragen. Viel klüger wäre es allerdings, nicht jedes und alles unter Strafe zu stellen. Ich glaube nicht, dass es ein Land gibt, das über mehr Strafnormen verfügt als die Schweiz. Und ich glaube nicht, dass es ein Land gibt, das mehr Verhaltensweisen kriminalisiert als unseres.
@Thomas: “Rechtsstaatlich unhaltbar” finde ich jetzt so kühn nicht (vgl. zB Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK: “in einer ihr verständlichen Sprache”). Das Verfahren produziert unzählige Fehlurteile, jedenfalls wenn wir Killias glauben wollen. Wichtige Aspekte führen Sie selbst im zweiten Absatz an. Den letzten Absatz will ich nicht ausführlich kommentieren. Der besagte Politiker steht nach meiner Wahrnehmung nicht rechts und als Strafverteidiger lebe ich nicht primär von schlagzeilenträchtigen Prozessen, sondern von solchen, die gar keine sein sollten.
Dass das Strafverfahren aus Sicht der Prozessökonomie und zur Entlastung der Gericht Sinn macht, ist m.M. unbestritten.
Es ist aber leider so, dass auch Unschuldige vor einem vor dem Gericht stattfindenden Verfahren zurückschrecken. Sei es weil die Busse, im Verhältniss zum Zeitaufwand der das Gerichtsverfahren mit sich bring, gering ist oder weil man sich vor der Stigmatisierung (“Ich muss vor Gericht!”) des Verfahrens fürchtet.
Zudem ist zu vermuten, dass durch den Strafbefehl die Unschuldsvermutung und das Opportunitätsprinzip an Bedeutung verlieren. Da der Aufwand für einen Strafbefehl viel geringer ist als für ein Gerichtsverfahren, wird jede noch so kleine Bagatelle bestraft und auch bei Fällen, bei denen nur äusserst dürftige Beweise vorliegen (und in dubio pro reo gelten müsste!), ein Strafbefehl ausgesprochen.
@Greg: Die Fallzunahme wäre nicht 96%, sondern 2400%. Nimmt mich ja Wunder, wie rechtsstaatlich haltbar unsere Gerichtsverfahren dann noch wären. Vierundzwanzig Mal grössere Gerichte würde ja sicher keiner Bezahlen wollen.
Der Bürger bekommt, was er zu bezahlen bereit ist. Dass die anonyme Masse das magere Budget bestimmt, welches das (entsprechend magere) ‘Justizerlebnis’ des einzelnen Betroffenen prägt, ist wohl bedauerlich, lässt sich aber kaum ändern. Rechtstaatlichkeit interessiert die meisten eben erst, wenn sie mitten drin hängen, und dann ist es zu spät.Selber Schuld, könnte man dann auch sagen.
Folgender Punkt ist mit der EMRK unvereinbar.
d) eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten
Freiheitsentzug bedarf ausdrücklich eines richterlichen Entscheids, insofern sind etliche StPOs im Punkt der Ersatzfreiheitsstrafe bei Strafverfügungen unhaltbar.
Im Übrigen kann so eine Strafverfügugn am Ende sehr teuer werden, wenn letztinstanzlich der ECHR dann solche Verfügungen kippt.
Die Frage ist aber WARUM es in das Strafverfahren in der Kritik ist.