Strafe oder bloss Reputationssanktion?

Das schweizerische Finanzmarktrecht kennt mittelalterlich anmutene “Strafen”, die gemäss Bundesgericht eben gerade keine Strafen, sondern blosse Reputationssanktion sind (“naming and shaming”, vgl. Art. 34 FINMAG). Diesen “Strafen” stehen strafbewehrte Mitwirkungspflichten (vgl. Art. 29 FINMAG i.V.m. Art. 45 FINMAG) gegenüber, was u.a. mit “nemo tenetur” und Unschuldsvermutung in Konflikt geraten kann.

Das Bundesgericht löst den Konflikt, indem es Reputationssanktionen den Strafcharakter abspricht (BGE 2C_92/2019 vom 31.01.2020, Publikation in der AS vorgesehen). Man müsse die Sanktion nur zeitgemäss verstehen:

Entsprechend wird die Publikationsanordnung in Art. 34 FINMAG nicht von einem individuellen Verschulden im Sinne des Schuldstrafrechts (…), sondern von der Voraussetzung einer individuell zurechenbaren schweren Verletzung aufsichtsrechtlicher Pflichten abhängig gemacht. Im Vordergrund steht bei der Publikationsanordnung im Sinne von Art. 34 FINMAG nach einem zeitgemässen Gesetzesverständnis nicht mehr das eigentliche ‘naming and shaming’, das zumindest für Personen mit einer guten Reputation (…) eine repressive oder präventive Wirkung zu entfalten vermag (…), sondern die  Herstellung von Markttransparenz (…)  als einem wesentlichen Element der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte (…). Ob eine nicht über die für den Marktzugang erforderliche Bewilligung, Anerkennung, Zulassung oder Registrierung verfügende Person durch die blosse Information über diesen Umstand angesichts dessen, dass sie ohnehin nicht auf diesem Markt tätig sein dürfte, überhaupt einen (wirtschaftlichen) Nachteil zu erleiden vermag, wird vorliegend deswegen offen gelassen, weil ein solcher im Lichte der Rechtsprechung jedenfalls nicht schwer genug wiegt, um eine Qualifikation der Sanktion als strafrechtlich zu rechtfertigen. Nach der jüngsten Rechtsprechung des EGMR führt selbst ein dauernder Entzug einer in einem besonderen Rechts- oder Aufsichtsverhältnis zuvor erteilten Bewilligung für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit noch nicht zu einer Qualifikation der Sanktion als strafrechtlich im Sinne von Art. 7 EMRK, falls dem Betroffenen dadurch nicht vollständig verunmöglicht wird, einen anderen Beruf auf seinem angestammten Ausbildungsfeld auszuüben (zit. Urteil des EGMR  Rola, § 66; a.A. GRAF, a.a.O., S. 46). Noch weniger vermögen bloss vorübergehende Einschränkungen in einer bewilligungspflichtigen Tätigkeit eine Qualifikation als strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK nach sich zu ziehen (zit. Urteil des EGMR  Müller-Hartburg, § 48). Die Natur bzw. die Art und Schwere des Vergehens sprechen daher für eine Einordnung der Sanktion als verwaltungsrechtliche Disziplinarreglung im besonderen Rechts- oder Aufsichtsverhältnis (…) und nicht als strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK (zit. Urteile des EGMR  Rola, §§ 56, 63, 64,  Müller-Hartburg, §§ 44-49, und  Biagioli, §§ 54-57; siehe auch HSU/BAHAR/ FLÜHMANN, a.a.O., N. 12a zu Art. 32 FINMAG; WALDMANN, a.a.O., S. 110) [E. 5.4.3.3, Hervorhebungen durch mich].

Könnten die (hier nicht erfüllten) Engel-Kriterien vielleicht doch langsam überfordert sein?