Strafmindernde Verfahrensdauer?
In einem Fall aus dem Kanton BL hat das Bundesgericht entschieden, die massive Verletzung des Beschleunigungsgebots müsse zu strafmindernd berücksichtigt werden. Dem Beschwerdeführer war vorgeworfen worden, zwischen 2004 und 2013 durch wissentlich falsche Angaben gegenüber Ärzten und Versicherungen Leistungen von mehreren Hunderttausend Franken erhältlich gemacht zu haben (gewerbsmässiger Betrug, 40 Monate). Das Verfahren dauerte acht Jahre, was dem Kantonsgericht nicht genügte, um das Beschleunigungsgebot als verletzt zu qualifizieren.
Das Bundesgericht sieht das ganz anders (BGer 7B_454/2023 vom 27.03.2024):
Es ist unbestritten, dass das Verfahren mit 8 Jahren sehr lange gedauert hat. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist zudem sehr wohl eine krasse Zeitlücke auszumachen. So vergingen zwischen dem erstinstanzlichen Entscheid und dessen Begründung augenscheinlich zwei Jahre. Gemäss Vorinstanz datiert das erstinstanzliche Urteil von November 2019, dessen Begründung folgte im November 2021. Dies ist nicht zuletzt mit Blick auf Art. 84 Abs. 4 StPO, welcher die Ausfertigung des Urteils grundsätzlich innert 60, höchstens 90 Tagen verlangt, nicht nachvollziehbar. Zwar handelt es sich dabei um eine Ordnungsvorschrift. Das massive Überschreiten dieser Fristen im vorliegenden Fall ist indessen nicht zu rechtfertigen und geradezu stossend. So hat das Bundesgericht bereits eine Begründungsfrist von 8 Monaten als massiv zu lang und Verstoss gegen das Beschleunigungsgebot bezeichnet (vgl. Urteil 6B_682/2023 vom 18. Oktober 2023 E. 3.2.2). Dies muss erst Recht für eine Dauer von zwei Jahren gelten. Das erstinstanzliche Verfahren insgesamt dauerte zudem über 4 Jahre (Anklageerhebung: 14. März 2018; begründetes Urteil: 2. November 2022), was ebenfalls zu lang ist. Dies gilt, unbesehen der Notwendigkeit medizinischer Abklärungen – was im Übrigen nicht aussergewöhnlich ist -, auch für die gesamte Verfahrensdauer von 8 Jahren. Eine besondere Komplexität des Falles ist, insbesondere in rechtlicher Hinsicht, nicht anzunehmen. Der Verletzung des Beschleunigungsgebots ist strafmindernd Rechnung zu tragen (E. 3.3.2).
Das sieht für mich eher nach einem Strafmilderungsgrund aus (Art. 48 lit. e StGB oder Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Aber vielleicht meinte das Bundesgericht das ja eigentlich so. Die verletzte Rechtsnorm nennt es nicht.
Das BGer schreibt doch welche Norm es verletzt sieht, nämlich
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Dies ist nicht zuletzt mit Blick auf Art. 84 Abs. 4 StPO, welcher die Ausfertigung des Urteils grundsätzlich innert 60, höchstens 90 Tagen verlangt, nicht nachvollziehbar.
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und die Vorinstanz hat doch schon die Strafe um 5 Monate (gemäss Art. 48 lit. e StGB) reduziert, siehe:
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Nicht zu beanstanden ist demgegenüber, dass die Vorinstanz eine bloss leicht erhöhte Strafempfindlichkeit infolge der aktuellen Diagnose annimmt. Sie berücksichtigt dies mit einer Strafreduktion um fünf Monate angemessen. Damit trägt die Vorinstanz dem Umstand Rechnung, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers eng mit dem Strafverfahren resp. mit Stresssituationen im Allgemeinen korreliert.
[…]
Für das Bundesgericht besteht kein Anlass, in das Ermessen der Vorinstanz einzugreifen.
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Oder verstehe ich hier etwas falsch?
Ich habe mich da etwas missverständlich ausgedrückt, was ich meine ist folgendes:
Wenn die Vorinstanz festgehalten hätte, dass zwar Art. 84 Abs. 4 StPO verletzt wurde, jedoch deshalb keine Strafmilderung angerechnet wurde, dann hätte die Vorinstanz Art. 48 lit. e StGB verletzt, jedoch sieht die Vorinstanz keine Verzögerung (und somit kein Verstoss an Art. 84 Abs. 4 StPO), deshalb ist auch Art. 48 lit. e StGB (Strafmilderung) gemäss Vorinstanz nicht anzuwenden: Das Bundesgericht korrigiert nur diese Verletzung (Art. 84 Abs. 4 StPO) und geht davon aus, dass die Vorinstanz dies zur Strafmilderung nutzt bzw. sagt es Ihnen vor.