Strafverfahren ohne verwertbare Beweise

In BGer 6B_20134/2018 vom 19.05.2019 heisst das Bundesgericht eine Beschwerde gegen eine Einstellungsverfügung gut, obwohl – zurzeit – keine verwertbaren Beweismittel gegen den Vater vorliegen, der sich an seinem Sohn sexuell vergangen haben soll. Beschwerdeführerin war übrigens die Mutter.

Wenn man dann auch noch sieht, dass das Bundesgericht gar nicht auf die Beschwerde hätte eintreten dürfen, muss man sich fragen, wie es seine Rolle denn eigentlich versteht. Das Eintreten rechtfertigt das Bundesgericht allen Ernstes mit einem früheren Entscheid in der selben Angelegenheit:

Auch wenn die Beschwerdeführerin nur ungenügend auf die Frage ihrer Legitimation eingeht, so ergibt sich diese aus dem Urteil 1B_380/2017 vom 22. Dezember 2017, in welchem die Beschwerdeführerin als Privatklägerin zugelassen wurde. In Erwägung 4 des betreffenden Urteils hat das Bundesgericht ausgeführt, es bestehe eine genügende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführerin Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche gegenüber dem Beschuldigten aus den ihm zum Nachteil von B. vorgeworfenen Straftaten entstanden sein könnten. Daher ist die Legitimation der Beschwerdeführerin zu bejahen und auf ihre Beschwerde unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägungen einzutreten (E. 1.2).

So grosszügig ist das Bundesgericht normalerweise ja nicht. Was es dann aber in der Sache ausführt, ist der Albtraum jedes Strafverteidigers, der seinem Mandanten erklären soll, wie er das höchstrichterliche Urteil verstehen und akzeptieren soll

2.4.3. Gestützt auf die für das Bundesgericht verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz stand im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids nicht mit Gewissheit fest, ob im Rahmen des Strafverfahrens eine zweite, parteiöffentliche und somit beweisverwertbare Aussage des Kindes gemäss Art. 147 StPO erhältlich gemacht werden kann oder ob die Zeugnisverweigerung definitiv ist. Denn gemäss Vorinstanz ist unklar, ob die Beschwerdeführerin den Entscheid der KESB vom 23. Februar 2018, mit welchem die KESB die Inanspruchnahme des Zeugnisverweigerungsrechts für das Kind B. schützte, angefochten hat (angefochtener Entscheid S. 11). Die Vorinstanz hat nicht ausgeschlossen, dass die Prozessvoraussetzungen für eine Fortführung des Strafverfahrens irgendwann gegeben sein könnten.  
Der Umstand, dass (noch) keine verwertbare Zweitaussage des Kindes vorliegt, rechtfertigt die Einstellung des Verfahrens nicht und es ist von der Vorinstanz zu prüfen, ob eine solche noch erhältlich gemacht werden kann. Beim Vorwurf der sexuellen Handlungen mit Kindern handelt es sich um einen schwerwiegenden Tatvorwurf, der durch die Strafverfolgungsbehörden nicht leichthin fallen gelassen werden darf. Dies gilt umso mehr, als das betroffene Kind (nicht verwertbare weil nicht parteiöffentliche) Erstaussagen gemacht hat und weiterhin aussagewillig ist. Zwar ist nach den zutreffenden vorinstanzlichen Erwägungen nicht zu übersehen, dass das Interesse des Kindes an einer weiteren verwertbaren Aussage kritisch zu hinterfragen ist, nachdem die Beschwerdeführerin im Verfahren 1B_380/2017 vor Bundesgericht ausgeführt hat, sie müsse ihren traumatisierten Sohn rund um die Uhr betreuen, um ihn zu stabilisieren und die Folgen (depressive Schübe, Angstzustände, Schlaflosigkeit und Wutattacken) der in Frage stehenden Delikte zu mildern. Dies ist aber im vorliegenden Fall nicht entscheidend, solange nicht ausgeschlossen ist, dass die zuständigen Verwaltungsinstanzen auf ihren Entscheid betreffend die Zeugnisverweigerung von B. zurückkommen. Schliesslich erscheint es auch möglich, dass das Kind selbst auf die Zeugnisverweigerung zurückkommt, wenn es genügend alt ist, um darüber zu entscheiden. 
 
Hinzu kommt, dass die bisherige Verfahrensdauer von nunmehr zwei Jahren für den untersuchten Tatvorwurf der sexuellen Handlungen mit Kindern nach Art. 187 StGB als moderat zu bezeichnen ist. Setzt man sie in Relation zur Verfolgungsverjährung, die bis mindestens zum 25. Lebensjahr des Opfers andauert (Art. 97 Abs. 2 StGB), so ist nicht ersichtlich, weshalb mit der Einstellung des Strafverfahrens nicht zugewartet werden könnte, bis gegebenenfalls die zuständigen Verwaltungsbehörden mit voller Kognition über die Zeugnisverweigerung von B. entschieden haben. Die nicht näher begründete vorinstanzliche Annahme, ein solcher Entscheid sei “nicht absehbar”, genügt für eine Einstellung nicht. Die Vorinstanz verfügt nicht über hinreichende Gewissheit, dass das für die Einstellung massgebende Prozesshindernis endgültig wäre. Nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand kann nicht mit hinreichender Sicherheit auf offensichtlich fehlende Prozessvoraussetzungen im Sinne von Art. 319 Abs. 1 StPO geschlossen werden, welche eine Einstellung des Verfahrens gebieten. Indem die Vorinstanz unter den gegebenen Umständen der Einstellung des Verfahrens Priorität einräumt, verletzt sie Bundesrecht. Dass der Tatvorwurf der mehrfachen Tätlichkeiten nach Art. 126 StGB bei einer Fortführung des Verfahrens verjähren kann, ist dabei hinzunehmen, zumal es sich um eine blosse Übertretung handelt, und dem Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern bereits aufgrund der Ausgestaltung als Verbrechen ein erheblich grösseres Gewicht zukommt [Hervorhebungen durch mich]. 

Cui bono? Und: wie begründet man denn nun den hinreichenden Tatverdacht, der zur Weiterführung eines Strafverfahrens nötig ist?

Nun gut, es war bestimmt nicht das letzte Mal , dass sich das Bundesgericht mit diesem Fall beschäftigen musste.