Tatverdacht?
Die Anordnung von Zwangsmassnahmen setzt grundsätzlich einen “hinreichenden Tatverdacht” voraus. Was ein hinreichender Tatverdacht ist, weiss allerdings niemand. Auch die Justiz tut bloss so, als wäre sie in der Lage, den Begriff fassbar zu machen.
Das tönt dann beispielsweise in den Entscheiden des Bundesstrafgerichts so (hier ein Entsiegelungsentscheid nach VStrR; BStGer BE.2018.4 vom 20.08.2018):
Im Entsiegelungsentscheid ist vorab zu prüfen, ob ein hinreichender Tatverdacht für eine die Durchsuchung rechtfertigende Straftat besteht. Dazu bedarf es – gemäss den einschlägigen Bestimmungen und Prinzipien der StPO (…) – zweier Elemente: Erstens muss ein Sachverhalt ausreichend detailliert umschrieben werden, damit eine Subsumtion unter einen oder allenfalls auch alternativ unter mehrere Tatbestände des Strafrechts überhaupt nachvollziehbar vorgenommen werden kann. Zweitens müssen ausreichende Beweismittel oder Indizien angegeben und vorgelegt werden, die diesen Sachverhalt stützen (E. 4.1., Hervorhebungen durch mich).
Damit könnte man die meisten Zwangsmassnahmenbefehle erfolgreich anfechten. Die Praxis ist aber (mit den Strafverfolgungsbehörden) sehr grosszügig und konzentriert sich lieber darauf, wortreich um den Begriff des hinreichenden Tatverdachts zu kreisen und so zu tun, als würde sie ihn mit Inhalt füllen. Das tönt dann so:
In Abgrenzung zum dringenden setzt dabei der hinreichende Tatverdacht gerade nicht voraus, dass Beweise oder Indizien bereits für eine erhebliche oder hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung sprechen (…). Der Begriff des hinreichenden Tatverdachts als Voraussetzung für eine Durchsuchung (Art. 197 Abs. 1 lit. bStPO) ist identisch mit dem Anfangsverdacht, welcher gemäss Art. 309 Abs. 1 lit. aStPO zur Einleitung der Strafverfolgung führt bzw. – in Art. 310 Abs. 1 lit. aStPO negativ formuliert – zur Fortführung derselben verpflichtet. Dabei gilt der Grundsatz in dubio pro duriore. Danach ist nur nicht an die Hand zu nehmen oder einzustellen (Art. 319 Abs. 1 lit. a und b StPO), wenn es klar erscheint, dass der Sachverhalt nicht strafbar ist oder nicht bestraft werden kann (…). Somit ist der hinreichende Tatverdacht mit demjenigen, der Voraussetzung für die Zwangsmassnahme nach Art. 197 Abs. 1 lit. aStPO grundsätzlich identisch, auch wenn der erforderliche Verdachtsgrad von der Eingriffsschwere der Zwangsmassnahme abhängt (…). Entsprechend folgert aus der grundsätzlichen Gleichartigkeit des Begriffs des hinreichenden Tatverdachts auch, dass aufgrund des Grundsatzes in dubio pro duriore bei Unklarheiten nicht nur eine Strafuntersuchung zu eröffnen und durchzuführen ist, sondern dass eben die Voraussetzung für die Zwangsmassnahme der Durchsuchung auch gegeben ist. Sie dient ja gerade dazu, anfängliche Unklarheiten im Sinne der Vorwürfe zu klären (E. 4.1., Hervorhebungen durch mich).
Damit ist dem Tatverdacht jede begrenzende Wirkung genommen. Ehrlicherweise sollte man ihn wohl einfach aufgeben und aus dem Gesetz streichen.
“Ehrlicherweise sollte man ihn wohl einfach aufgeben und aus dem Gesetz streichen.” Einfach, klar, Helvetia!
Als Tipp: auf Rechtsprechung EGMR zurückgreifen, diese ist doch etwas griffiger (mind. betr dringender Tatverdacht: die vorhandenen Indizien müssen für einen unbeteiligten Dritten mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung sprechen).