Teilnahmerechte bei Einvernahmen: ja, ABER

Das Bundesgericht hat sich erstmals materiell zur Frage der Teilnahmerechte bei Einvernahmen von Mitbeschuldigten geäussert und die vermittelnde Lösung des Obergerichts des Kantons Bern als bundesrechtskonform beurteilt (BGE 1B_264/2012 vom 10.10.2012, Publikation in der AS vorgesehen; vgl, dazu meinen früheren Beitrag über den angefochtenen Entscheid).

Das Bundesgericht spricht sich im Grundsatz für die Teilnahmerechte aus und befasst sich dann eingehend mit möglichen Ausnahmen. Zum Grundsatz:

Die in Erwägung 4 dargelegte Systematik der StPO und die Wortlaute der genannten Vorschriften sprechen für die grundsätzliche Zulassung beschuldigter Personen (und ihrer Verteidigung) zur parteiöffentlichen Einvernahme von Mitbeschuldigten (und weiteren Gewährspersonen). Insbesondere bildet das in Art. 146 Abs. 1 StPO verankerte Prinzip der “getrennten” Einvernahme keine selbstständige gesetzliche Ausnahme zu den spezifischen Parteirechten nach Art. 147 Abs. 1 StPO. Ein prinzipieller Teilnahmeanspruch beschuldigter Personen wird denn auch von der überwiegenden Literatur (sowie von der baselstädtischen, Berner und Waadtländer Gerichtspraxis) bejaht (E. 5.1).

Damit ist nun höchstrichterlich bestätigt, dass die zürcherische Praxis den Grundsatz der getrennten Einvernahme schlicht und einfach falsch verstanden und interpretiert hat.  

Die Ausnahmen lassen sich nicht leicht überblicken. Ich befürchte aber jetzt schon, dass die Ausnahmen am Ende die Regel bilden werden.

Das Bundesgericht bestätigt zunächst, dass die selbständige polizeiliche Einvernahme nicht parteiöffentlich sind:

Separate (nicht parteiöffentliche) polizeiliche Befragungen sind im Ermittlungsverfahren möglich, wenn die Polizei im Rahmen ihrer selbstständigen Ermittlungstätigkeit Befragungen von tatverdächtigen Personen durchführt (Art. 306 Abs. 2 lit. b StPO). Falls die Staatsanwaltschaft hingegen Einvernahmen (vor oder nach Eröffnung der Strafuntersuchung) an die Polizei delegiert, gelten die Bestimmungen von Art. 147 Abs. 1 StPO betreffend Teilnahmerechte (Art. 312 Abs. 1-2 i.V.m. Art. 306 Abs. 3 StPO; zum Anspruch des polizeilich befragten Beschuldigten auf Beizug des eigenen Verteidigers s. auch Art. 159 Abs. 1 StPO) [E. 5.4.3].

In E. 5.5 prüft das Bundesgericht dann, ob im zu prüfenden Einzelfall eine Ausnahme vorliegt, die den Grundsatz beschränken könnte, was es verneint. Gründe für die Beschränkung können jedoch sein:

  • Missbrauch (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO)
  • Sicherheit / Geheimhaltungsinteressen (Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO)
  • Einschränkungen gegenüber dem Rechtsbeistand (Art. 108 Abs. 2 StPO)
  • Analogie zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 StPO ist möglich
Insbesondere im letzten Punkt ermöglicht das Bundesgericht, dass die Ausnahme zur Regel werden wird, zumal die Staatsanwaltschaft die Befragungen entsprechend planen kann:
Bei der Auslegung der StPO ist eine Kohärenz zwischen den inhaltlich konnexen Bestimmungen betreffend Akteneinsicht und Teilnahme an Beweiserhebungen anzustreben. Soweit der Wortlaut von Art. 147 Abs. 1 StPO den aufgezeigten Zielkonflikten (zwischen der strafprozessualen Wahrheitsfindung einerseits und den Parteirechten bzw. der prozessualen Gleichbehandlung von Mitbeschuldigten anderseits) keine Rechnung trägt (vgl. oben, E. 5.4), hat eine sachgerechte wertungskohärente Lückenfüllung (bzw. teleologische Reduktion) der Norm zu erfolgen. Danach kann die Staatsanwaltschaft – ähnlich wie bei der Akteneinsicht nach Art. 101 Abs. 1 StPO – im Einzelfall prüfen, ob sachliche Gründe für eine vorläufige Beschränkung der Parteiöffentlichkeit bestehen. Solche Gründe liegen insbesondere vor, wenn im Hinblick auf noch nicht erfolgte Vorhalte eine konkrete Kollusionsgefahr gegeben ist. Falls die Befragung des Mitbeschuldigten sich auf untersuchte Sachverhalte bezieht, welche den (noch nicht einvernommenen) Beschuldigten persönlich betreffen, und zu denen ihm noch kein Vorhalt gemacht werden konnte, darf der Beschuldigte von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Die blosse Möglichkeit einer abstrakten “Gefährdung des Verfahrensinteresses” durch rechtmässiges prozesstaktisches Verhalten rechtfertigt hingegen noch keinen Ausschluss von den Einvernahmen (E. 5.5.4.1).
Schliesslich äussert sich das Bundesgericht auch noch zur Missbrauchsgefahr, die von den Verteidigern ausgeht. Es erinnert die Verteidiger, dass sie sich ans Gesetz halten müssen und dass ihnen eine Geheimhaltungspflicht gegenüber dem Klienten auferlegt werden kann:
Soweit ein Ausschluss des Beschuldigten aufgrund von Rechtsmissbrauchsverdacht zulässig ist, darf auch die Verteidigung eine entsprechende Kollusion nicht befördern. Bei der Wahrnehmung der Interessen ihrer Klientschaft hat die Verteidigung die Rechtsordnung zu respektieren, wozu auch die gesetzlichen Vorschriften zum Rechtsmissbrauchsverbot gehören. Soweit den Verteidiger oder die Verteidigerin nicht persönlich ein konkreter Rechtsmissbrauchsverdacht (im Sinne von Art. 108 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. a StPO) trifft, kann die Staatsanwaltschaft in begründeten Fällen auch prüfen, ob der an Einvernahmen teilnehmenden Verteidigung gegenüber ihrer Klientschaft eine zeitlich eng befristete förmliche Geheimhaltungsverpflichtung aufzuerlegen ist (E. 5.5.9).
Eine solche  Geheimhaltungsverpflichtung – auch wenn sie eng befristet ist – erscheint mir als absolut unhaltbar und zeigt, dass über die Funktion der Strafverteidigung nach wie vor Vorstellungen bestehen, die seit der Aufklärung eigentlich nicht mehr herrschen dürften. Eine solche Geheimhaltungsverpflichtung ist geeignet, die Vertrauensbasis zwischen Anwalt und Klient zu zerstören und damit eine wirksame Verteidigung zu gefährden.
Ich weiss noch nicht, was ich von diesem Entscheid halten soll. Das wird wohl erst die Praxis zeigen.