Trauerspiel eGov
Im aktuellen Jusletter erklärt Simon Betschmann die elektronischen Eingaben im Rahmen von Strafprozessen. Der Beitrag ist wertvoll für alle, die sich an das Thema überhaupt heran wagen, weil er einfach und klar darlegt, was im Hinblick auf eine rechtswirksame Eingabe zu beachten ist:
Simon Betschmann, Elektronische Eingaben im Rahmen von Strafprozessen, in: Jusletter 15. August 2022)
Was Betschmann nicht sagt (und im Rahmen seines Beitrags auch nicht ansprechen musste) ist, dass sich etliche Gerichte und Behörden darauf zu konzentrieren scheinen, elektronische Eingaben zu erschweren, indem sie beispielsweise die zwingend zu verwendenden speziellen Mail-Adressen nicht bzw. nicht mehr publizieren (zB Kanton Bern). Andere leiten die Rechtsuchenden anstatt auf die Mail-Adressen auf möglichst benutzerunfreundlich gestaltete Web-Kontaktformulare (Kanton Luzern). Wieder andere melden nach jeder Eingabe Fehlermeldungen zurück, so dass die Rechtsuchenden davon ausgehen müssen, ihre Eingabe sei nicht rechtswirksam. Manchmal kriegt man als Reaktion auf eine Eingabe auch einen Anruf mit der Bitte, die frist- und formgerecht eingegangene Eingabe (immerhin) auch noch schriftlich nachzureichen.
Ein Kapitel für sich ist der Umgang mit den Eingaben, die jeweils akribisch auf ihre Rechtsgültigkeit geprüft, dann mit allen Prüfvermerken auf etlichen Seiten ausgedruckt und im Papierdossier, das allein dadurch immer dicker wird, abgelegt werden.
Teile der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden hängen derart stark am Papier und der Briefpost, dass sie vermutlich auch das Projekt Justitia 4.0 (mit kräftiger Unterstützung aus der Advokatur übrigens) niederringen werden. Möge ich hier doch nur falsch liegen.
Auf Staatsanwaltschaften und Polizei kommen mit Justitia 4.0 neben vielem anderen auch anspruchsvolle Vorgaben hinsichtlich chain of custody / Beweismittelkette bzw. best pratices beim Erheben von elektronischen Beweismitteln zu, die heute hie und da noch übersehen werden.
Beispiel: “Weiter teile ich Ihnen mit, dass sämtliche zugestellten Akten lediglich in der Ihnen übermittelten Form vorliegen und beim Untersuchungsamt ______ keine elektronischen Ursprungsdateien vorhanden sind. Zudem sind die elektronisch eingeforderten Fotos i.S. M______/A______ für das Verfahren S______/E______ nicht relevant.”
Den Legal Data Scientist wird es allerdings nicht nur bei Behörden, sondern auch in Anwaltskanzleien brauchen.
Aber wir lesen im Transformationskonzept von Justitia 4.0 folgendes: “Die KKJPD und die Schweizerische Justizkonferenz haben sich mit dem Ziel zusammengeschlossen, mit Justitia 4.0 den elektronischen Rechtsverkehr (ERV) über die gemeinsame Plattform Justitia.Swiss und die elektronische Justizakte (eJustizakte) flächendeckend einzuführen. […]
Diese Nutzergruppen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Aufgaben werden durch Justitia 4.0 ihre Arbeitsweisen und -gewohnheiten teils massiv anpassen müssen; in gewissen Bereichen werden sich die Arbeitsabläufe teils erheblich verändern (besonders in den Kanzleien), nicht oder nur wenig bei den Juristen. […]
Quelle: https://www.digitale-gesellschaft.ch/2022/05/14/mit-transformations-und-kommunikationskonzept-gegen-bedeutende-widerstaende-zu-justitia-swiss-oeffentlichkeitsgesetz/
Es hilft auch nichts, wenn mit Storytelling versucht wird, “den Juristen” vorzugaukeln, die Arbeitsabläufe würden sich durch die Einführung des führenden elektronischen Dossiers nicht oder nur wenig verändern. So trägt auch die Kommunikation von Ju40 selbst dazu bei, das Projekt Ju40 niederzuringen.