Treuwidriges Gericht

Für einmal hält das Bundesgericht Treu und Glauben nicht der Verteidigung entgegen, sondern einem Gericht. Es heisst eine Beschwerde in einer Siegelungssache gut (BGer 1B_284/2022 vom 16.12.2022). Im Ergebnis bedeutet der Entscheid, dass die Parteien auch dann anzuhören sind, wenn ein Nichteintreten in Aussicht gestellt wird:

Als die Vorinstanz in Aussicht nahm, ein gültiges Siegelungsbegehren zu verneinen, deshalb auf das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft vom 12. Mai 2022 nicht einzutreten und die sichergestellten Geräte und Datenträger zur Durchsuchung freizugeben, hätte der Entsiegelungsrichter den Beschwerdeführer von Bundesrechts wegen zu dieser Verfahrenserledigung Stellung nehmen lassen müssen. Auch gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) durfte der Beschwerdeführer – nach faktisch erfolgter Siegelung und Eingang des Entsiegelungsgesuches beim ZMG – davon ausgehen, dass dieses entweder ein kontradiktorisches Entsiegelungsverfahren (Art. 248 StPO) durchführen oder ihn wenigstens zu einer allfälligen Erledigung mittels Prozessurteil (Nichteintreten auf das Entsiegelungsgesuch) anhören würde. Stattdessen hat die Vorinstanz entschieden, ohne dem Beschwerdeführer diesbezüglich das rechtliche Gehör zu gewähren. Insbesondere erhielt er vorinstanzlich keine Gelegenheit, den Entsiegelungsrichter auf seine Sachdarstellung betreffend kursorische Darlegung von Siegelungsgründen gegenüber der polizeilichen Sachbearbeiterin bzw. der Staatsanwältin hinzuweisen und diesbezüglich Beweismittel einzureichen oder zu nennen (Art. 107 Abs. 1 lit. e StPO). Die von der Vorinstanz eingereichten Verfahrensakten enthalten denn auch (im Wesentlichen) nur das Entsiegelungsgesuch und den angefochtenen Entscheid (E. 4.5). 

Der Entscheid setzt sich übrigens einmal mehr mit dem rechtzeitigen und rechtsgenüglichen “Siegelungsgesuch” auseinander:

Damit aufgrund eines Siegelungsbegehrens eine gültige Siegelung durch die Strafverfolgungsbehörde erfolgt, muss die betroffene Person Siegelungsgründe zwar noch nicht im Detail darlegen, aber immerhin einen spezifischen Siegelungsgrund sinngemäss anrufen (zit. Urteile 1B_303/2022 E. 2.4; 1B_273/2021 E. 3.3; 1B_522/2019 E. 2.1; Urteil 1B_219/2017 vom 23. August 2017 E. 3.1; vgl. auch BGE 140 IV 28 E. 4.3.5). Der Siegelungsgrund muss dabei lediglich glaubhaft gemacht werden (zit. Urteile 1B_273/2021 E. 3.3; 1B_522/2019 E. 2.1; je mit weiteren Hinweisen). 

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes kann die knappe Angabe eines Siegelungsgrundes im Sinne von Art. 248 Abs. 1 StPO zwar zur Glaubhaftmachung grundsätzlich ausreichen. Da die Strafverfolgungsbehörden ein offensichtlich unbegründetes oder missbräuchliches Siegelungsbegehren aber ablehnen können (namentlich wenn die gesuchstellende Person offensichtlich nicht legitimiert ist oder das Gesuch offensichtlich verspätet gestellt wird), kann auch eine kurze Begründung zur Glaubhaftmachung des Siegelungsgrundes – je nach den Umständen des Einzelfalles – prozessual geboten erscheinen (zit. Urteile 1B_303/2022 E. 2.4; 1B_273/2021 E. 3.3; 1B_522/2019 E. 2.1; Urteil 1B_24/2019 vom 27. Februar 2019 E. 2.1 mit Hinweisen). Versäumt es die Strafverfolgungsbehörde, juristische Laien über ihr Siegelungsrecht ausreichend zu informieren, darf eine Siegelung hingegen nicht mit der Begründung verweigert werden, die betroffene Person habe bei der Sicherstellung noch keine Geheimnisrechte als Durchsuchungshindernis ausdrücklich angerufen (zit. Urteile 1B_273/ 2021 E. 3.3; 1B_219/2017 E. 3.1; 1B_382/2017 E. 3.1) [E. 4.4].

Diese Rechtsprechung schafft nur Probleme und verkennt die Rechtswirklichkeit. Unbestritten ist ja, dass über das Siegelungsrecht belehrt werden muss. Das geschieht so, dass den anwesenden Personen der Inhalt des Rechts und die möglichen Siegelungsgründe erläutert werden und anschliessend danach gefragt wird, ob sie siegeln wollen. Wer das bejahend beantwortet, ist seinen Substantiierungspflichten in diesem Stadium des Verfahrens m.E. nachgekommen. Andernfalls müsste man fairerweise das entsprechende Formular anpassen und die einzelnen Siegelungsgründe aufführen und ankreuzen lassen. Das würde schon viele Probleme im Siegelungsrecht lösen. Dass man später im Entsiegelungsverfahren konkretisieren muss, ist wohl hinzunehmen.