Über vier Jahre in prozessualer Haft

Untersuchungs- und Sicherheitshaft dürfen nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 3 StPO). Dabei ist grundsätzlich unerheblich, ob die Strafe bedingt aufgeschoben werden könnte oder ob eine bedingte Entlassung wahrscheinlich wäre. Dementsprechend hat das Obergericht ZH ein Haftentlassungsgesuch, das anlässlich der Berufungsverhandlung gestellt wurde, trotz über vierjähriger Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft dauernder abgewiesen. Auf die Umstände, die von einem Abweichen vom Grundsatz hinweisen, ist das Obergericht in Verletzung des Gehörsanspruchs nicht einmal eingegangen.

Das wird es nun nachzuholen haben (BGer 1B_186/2022 vom 09.05.2022). Hier Feststellung des Bundesgerichts dazu:

Unter den gegebenen Umständen durfte sich die Vorinstanz mit Blick auf die aus Art. 29 Abs. 2 BV abgeleitete behördliche Begründungspflicht nicht damit begnügen auszuführen, vom Grundsatz der Nichtberücksichtigung der Möglichkeit der bedingten Entlassung sei vorliegend nicht abzuweichen. Vielmehr wäre sie angesichts der wiedergegebenen Rechtsprechung (vgl. E. 4.1 hiervor) gehalten gewesen, zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung mit grosser Wahrscheinlichkeit vorlagen. Insbesondere wäre sie verpflichtet gewesen, auf diejenigen Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen, welche geeignet sind, über das Vorliegen der Voraussetzungen für die bedingte Entlassung Aufschluss zu geben (E. 4.4).

Nach über vierjähriger Haft (zwei Drittel der zu erwartenden Strafe waren mit Sicherheit bereits verbüsst und das Verhalten im Vollzug war absolut einwandfrei) nicht einmal zu begründen, warum die Voraussetzungen für ein Abweichen vom Grundsatz nicht erfüllt sein sollen, ist bemerkenswert und in einem Rechtsstaat, der sich der Achtung der Grundrechte verpflichtet hat, eigentlich nicht vorstellbar. In der Schweiz ist es leider nicht aussergewöhnlich.