Überforderte Justiz: Covid-19-Strafrecht
Covid-19 und die diesbezüglich in Kraft gesetzten und fast im Wochentakt geänderten Erlasse werden die Justiz vermutlich noch lange beschäftigen. Noch viel länger dauert es aber, wenn die kantonalen Instanzen gar nicht mehr genau hinsehen und einfach verurteilen was die Staatsanwaltschaften – meist in der Form von überwiesenen Strafbefehlen – zur Anklage bringen.
Beispielhaft ist ein Urteil aus dem Kanton LU, welches das Bundesgericht jetzt aber auf Laienbeschwerde hin kassiert hat, Die Beschwerdeführerin wurde einerseits gestützt auf eine Strafnorm verurteilt, die zur Tatzeit gar nicht in Kraft war. Zudem wurde sie verurteilt für die Durchführung einer Veranstaltung, die sie gar nicht durchgeführt hatte (BGer 6B_137/2023 vom 20.10.2023).
Zur Strafnorm:
Die Vorinstanz wirft der Beschwerdeführerin vor, sie habe den objektiven Tatbestand von Art. 13 “lit. d” aCovid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 23. Januar 2021) erfüllt (angefochtenes Urteil S. 19). Eine solche Strafbestimmung existierte in der aCovid-19-Verordnung besondere Lage in der im Tatzeitpunkt geltenden Fassung vom 23. Januar 2021 nicht. Die damals geltende Strafbestimmung kannte lediglich vier Bestimmungen (lit. a, abis, b und c), wobei das Durchführen einer nach Art. 6 Abs. 1 verbotenen Veranstaltung von Art. 13 lit. b erfasst wurde. Die Vorinstanz hätte bezüglich des Informationsanlasses vom 23. Januar 2021 daher – wie zuvor bereits das Bezirksgericht – Art. 13 lit. b der aCovid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 23. Januar 2021) zur Anwendung bringen müssen, was das Bundesgericht von Amtes wegen prüft (vgl. Art. 106 Abs. 1 BGG; Urteil 6B_209/2022 vom 18. August 2023 E. 1.5.2.1 f.) [E. 4.3.3].
Zur angeblichen Veranstaltung:
Unklar ist, weshalb die Vorinstanz davon ausgeht, die Beschwerdeführerin habe am 27. Februar 2021 einen kostenpflichtigen Kurs durchgeführt, obschon ihr keine Kursgebühren zuflossen und sich nebst ihr selbst lediglich zwei weitere Personen in der Wohnung befanden, darunter eine “Kollegin”. Dass auf der Webseite der Beschwerdeführerin für den 27. Februar 2021 ein kostenpflichtiger Kurs ausgeschrieben war, lässt nicht den Schluss zu, die Beschwerdeführerin habe diesen Kurs auch tatsächlich durchgeführt. Nicht ausgeschlossen ist, dass sie sich anlässlich der Polizeikontrolle vom 27. Februar 2021 mit zwei befreundeten Personen oder allenfalls Arbeitskollegen in der Wohnung in U. aufhielt. Sinn und Zweck der damals geltenden Bestimmungen war es, Ansammlungen von mehr als fünf Personen zu unterbinden. Private Veranstaltungen mit höchstens fünf Personen waren ohne Schutzkonzept zulässig (vgl. Art. 6 Abs. 2 aCovid-19-Verordnung besondere Lage). Der Beschwerdeführerin war es auch nicht generell untersagt, ihrer beruflichen Tätigkeit weiterhin nachzugehen, sich mit gleichgesinnten Personen zu treffen und beispielsweise weitere Veranstaltungen für die Zeit nach Aufhebung des Veranstaltungsverbots vorzubereiten. Der Schuldspruch wegen Durchführens einer verbotenen Veranstaltung nach Art. 13 lit. d i.V.m. Art. 6 aCovid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 8. Februar 2021), begangen am 27. Februar 2021, verstösst nach dem Gesagten gegen Bundesrecht (E. 4.4.3).
Ich habe soeben beim Kantonsgericht Luzern angerufen und nachgefragt, welche Richter im Verfahren 4M 22 31 (Luzerner Verfahrensnummer) beteiligt waren: Nachdem man mich 10min in der Warteschleife zur Abklärung warten liess, hat man sich geschämt, die Namen zu nennen. Die Richter scheinen ihre Urteile wohl lieber anonym zu fällen. So viel zu “öffentliche” Verhandlung und “öffentliche” Personen (Richter werden gewählt).
Überforderte Justiz? Wirklich? In Anbetracht wieviel Unrecht tagtäglich von all denen, die sich nicht zu wehren wissen (oder zu wehren getrauen) stillschweigend und schlimmstenfalls mit der Faust im Sack geschluckt wird, in Anbetracht all dessen, wovon die Behörden nur allzu oft nicht mal Notiz nehmen, macht die Justiz, wenn sie sich mit covid19-Sachen befasst, ganz und gar nicht den Eindruck, als ob sie “nicht à jour” und überfordert wäre… im Gegenteil, es kommt (mir zumindest) so vor, als ob die Justiz sich nur allzu gerne mit den allerneuesten – vor allem medialen – Themen befasst, sei es um “mitzureden”, sei es um sich den Anschein zu geben, nichts zu verpasst zu haben. Meiner bescheidenen Ansicht nach wäre vielen Bürgern aber weit besser geholfen, wenn Justiz und Behörden bei der Erledigung und Abarbeitung von Anliegen/Eingaben mehr Sorgfalt walten, und vor allem sauberere Sachverhaltsanalysen treffen würden, statt gerade “trendigen Themen” den Vorzug zu geben und irgendwelche Schüsse aus der Hüfte abzufeuern. Dann kämen auch die Entscheide der Wahrheit, Gerechtigkeit und juristischen Korrektheit näher.
Überforderung entsteht meist, wenn etwas zu schnell geht oder die zu bewältigende Aufgabe zu gross ist.
Die Art und Weise wie schnell jeweils ein Urteil gefällt wird, (zum Beispiel ob eine Kündigung zulässig, ein Untermietvertrag wirklich zustandegekommen oder eine Wohnungsausweisung recht- und zweckmäßig ist) ohne dass genau hingeschaut wurde, schockiert mich immer wieder.
Aber Behörden und Justiz sind – im Vergleich zur klagenden Einzelperson – ganz sicher nicht finanziell, personell oder materiell benachteiligt oder unterbesetzt.
Ja kommen die Urteile jetzt zu schnell oder zu langsam? ?
@Anyonymus
Das war jetzt zuviel Information für den anonymen Statsanwalt, er braucht jetzt eine 2-4 Jährige Fristerstreckung (aka Denkpause) um über den nächsten Schritt zu Entscheiden.
Ich empfehle der justiz, bei diesen fällen den grundsatz in dubio pro reo besonders in erinnerung zu rufen 😉
Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem hochspezialisierte Juristen es nicht schaffen, sich darüber zu einigen, welches Recht am fraglichen Tag, manchmal sogar in der fraglichen Stunde, anwendbar gewesen sein könnte. Und jetzt gehen Sie einen Schritt weiter und stellen Sie sich vor, dass dies sogar für Strafbestimmungen gelten würde. Das wäre absurd…
Es ist schon bemerkenswert, wie wenig Acht wir in der fraglichen Zeit auf unseren Rechtsstaat gegeben haben. Statt uns, gerade als Juristen, dafür zu schämen, setzen wir einfach fort und führen diese Strafverfahren tatsächlich durch. Wir wenden Strafbestimmungen an, die unsere Exekutive mittels Notrecht in völliger Kompetenzüberschreitung erfunden hat. Eigentlich unfassbar.
Danke
Beim Beitrag Lex mitior v. Zeitgesetz hatte ich bereits geschrieben, dass Art. 83 EpG im damaligen Fall anwendbar sei. Ihnen fehlte damals eine hinreichend konkrete Strafbestimmung.
Im vorliegenden Entscheid nun scheint das Bundesgericht meine damalige Meinung zu teilen (E.5.) oder sehe ich auch hier etwas falsch?