Überlastete Strafjustiz zum x-ten
Daniel Gerny (NZZ) hat sich dem Thema angenommen: Hier sein Artikel, der auch in der heutigen Druckausgabe erschienen ist.
Aktuelles zum Straf- und Strafprozessrecht
Daniel Gerny (NZZ) hat sich dem Thema angenommen: Hier sein Artikel, der auch in der heutigen Druckausgabe erschienen ist.
Die Beanstandige laufe im Grobe und Ganze drufuse, dass der Rächtstaat abgschafft werde söll, mit fründlicher Unterstützig vo Strafverteidiger Thomas Fingerhuth. Wäg mit der Siegelig, d’Behörde wüsse scho, was sie mache! Und wenn öppis bis zur Hauptverhandlig bschlagnahmt blibt: Kei Problem! Und s’Bundesgricht sött bitte nid so pingelig si. Oder meh Fäll vor Gricht? Gärn, aber das wöue d’Gricht ja au nid. Strafverteidiger Thomas Fingerhuth isch mer nid zum erschte Mal als Unterstützer vo Staatsawält und Richter uf. Ich nimm a, bi sine Mandate git’s kei Siegelige und kei Beanstandige, oder verstah ich öppis falsch?
@Bärner Strafverteidiger: Merkwürdige Darstellung. Und im Gegensatz zu Dir steht Thomas Fingerhuth zu dem was er sagt. Wärst Du tatsächlich Strafverteidiger, würdest Du zu Deinem Wort auch dann stehen, wenn es – wie hier – ziemlich unreflektiert ist.
Immer mehr und immer komplexere Strafnormen. Ausuferndes Nebenstrafrecht das (fast) niemand versteht. = Immer mehr, oder jedenfalls immer komplexere Strafverfahren die unter dem Strich, selbst wenn die Kriminalität teils rückläufig ist, mehr Ressourcen verbrauchen. – Man müsste dann halt auch mehr Ressourcen sprechen. Oder die Politik begreift, dass man nicht in jeden Verwaltungserlass 15 Strafbestimmungen hineinpfuschen muss.
Ein grundlegendes “Übel” ist m.E. die strafrechtliche Verfolgungsverjährung. Bei Übertretungen und allenfalls bei Vergehen kann man darüber diskutieren, ob der Staat bzw. die Gesellschaft nach (sehr) vielen Jahren noch ein Verfolgungsinteresse hat. Bei Verbrechen verstehe ich hingegen nicht, weshalb es eine Verfolgungsverjährung gibt. Solche Taten wiegen sehr schwer, so dass es für mich nicht nachvollziehbar ist, dass bereits nach 15 Jahren die Verjährung eintreten kann (abgesehen von den Taten mit drohender lebenslänglicher FS). Man ist ja nicht im Privatrecht, wo Forderungen bei unterlassener Durchsetzung durch den Gläubiger verjähren können und auch sollen.
Ein Ladendiebstahl mit einem Deliktsbetrag von CHF 301 soll also unverjährbar bleiben. Dann wird die Justiz definitiv überlastet sein.
Natürlich ist es unheimlich wichtig das der Staat auch nach 25 Jahre noch eine Parkbusse durchsetzen kann, während im Privatrecht am besten der Unternehmer schon nach 1 Jahr in der Verjährung ist.
Das Strafrecht gehört Grundlegend entrümpelt, Selbstschädigung zB hat im Strafrecht nichts verloren, jeder kann selbst Entscheiden wie gefährlich er lebem möchte, aber ja natürlich die Obermoral Apostel möchten allem gerne sagen wie Sie zu leben haben.
Daraus kommt viel der Verzögerung und es ist gut, es zeigt ein immer grösserer Teil der Bevölkerung hat die Bevormundung satt. Ob ich einen Joint rauche oder mir Heroin spritze oder ohne Helm fahre hat das Strafrecht einen Dreck zu interessieren, abstrakte Gefährdungsdelikte sind Fantasie Storys, die in die Kategorie Märchen gehören, ja es gab die Möglichkeit wenn ich Lotto spiele kann ich auch gewinnen es passiert nur relativ selten, genau gleich Verhält es sich mit vielen Abstraken Gefährdungsdelikten.
Strafrecht sollte nicht Präventivrecht sein und sich alleine darauf fokusieren wo es Dritte geschädigt gibt und nicht auf Selbstgefährdung, das würde etwas 30-50% aller Verfahren ausmachen.
….dann müssen Sie aber auch alle Leistungseinstellungen – oder Kürzungen der Versicherungen akzeptieren….
PS: 30-50%??….vielleicht sollten Sie mal die Statistiken studieren….
Ja darüber könnte man sogar diskutieren, dann aber bitte für alle die Gefährlich leben, Basejumper zB für diese soll die Allgemeinheit gerne aufkommen um Sie in Lauterbrunnen vom Boden zu kratzen, aber wer einen Joint raucht lebt ja sicherlich viel gefährlicher.
Im übrigen kürzen die Versicherungen heute schon bei Grobfahrlässigkeit, von Gesetzeswegen.
Ja inkl den Abstraken Gefährdungsdelikten sind wir sicherlich bei 30-50 den auch hier war in wirklichkeit niemand ausser der Beschuldigte in Gefahr.
Im heute veröffentlichten Interview mit Thomas Fingerhuth in der NZZ lassen sich seine Standpunkte besser nachvollziehen. Im oben erwähnten Artikel wurden scheinbar lediglich seine staatsanwaltschafts-freundlichen Antworten berücksichtigt und andere wichtige Argumente ignoriert.
Das ist ein wichtiger Hinweis! ?
Mit dem Artikel allein hatte ich erhebliche Fragezeichen. Mit dem Interview hingegen gewinnt die Position von Thomas Fingerhuth an Klarheit:
https://www.nzz.ch/schweiz/das-sagt-der-strafverteidiger-fingerhuth-zur-ueberlastung-der-justiz-wenn-wir-nicht-bald-etwas-tun-wird-die-lage-unhaltbar-ld.1757855
Ohne Paywall: https://archive.ph/PeVqw
@kj: Das Fragezeichen sollte übrigens ein Emoji sein.
Bei diesem Zeitungsleser handelt es sich nicht um den bisher als Zeitungsleser aufgetretenen Zeitungsleser. Der bis dahin als Zeitungsleser aufgetretene Kommentator teilt die Einschätzung des neuen Zeitungslesers nicht. Seltsam, dass so etwas auf dieser Plattform möglich ist.
@Markus: wie wäre es denn zu verhindern?
Die überlastete Justiz ist hausgemacht und liesse sich ganz leicht entlasten. Der mit Abstand grösste Teil der Strafverfahren sind Verkehrsdelikte (das wird jedoch in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht erwähnt). Jeder dritte (!) Mann in der Schweiz ist wegen eines Verkehrsdeliktes vorbestraft. Das passt nicht recht ins Bild unseres schönen Landes mit dem niedrigsten Geschwindigkeitsniveau des Kontinents und Unaufmerksamkeit als Unfallursache Nr. 1.
Daher lehne ich mich mal aus dem Fenster und fordere:
– die vollständige Entkriminalisierung von Verkehrsdelikten
– Tempo 160 auf Autobahnen für zwei Jahre, anschliessend die Aufhebung des allgemeinen Tempolimits
– Tempo 100 ausserorts
– Tempo 70 auf Hauptverkehrsstrassen innerorts
Beim Feldversuch 160 in Österreich gab es keinerlei Unfälle mit Geschwindigkeitsbezug mehr. Tatsächlich sind die Abschnitte der Deutschen Autobahn ohne Tempolimit die sichersten Strassen der Welt. Das sollten wir importieren!
Ein weiterer Ansatz zur Entlastung der Justiz: Statt zu versuchen, den Beschuldigten “in die Pfanne zu hauen”, sollte die Verfahrensleitung von Anfang an und proaktiv dessen Verfahrensrechte sicherstellen: Unaufgeforderte Akteneinsicht und Ergänzung in digitaler Form (als HQ-PDF, Video- und Audiodateien) auch und insbesondere an den nicht anwaltlich vertretenen Beschuldigten (und auch im Ordnungsbussenverfahren), proaktive Kontrolle von Einvernahmeprotokollen auf Suggestivfragen und Täuschungstechniken, proaktiver Abgleich zwischen schriftlichem Verhandlungsprotokoll und Audioprotokoll, tatsächliche und proaktive Ermittlung von entlastenden Tatsachen (man stelle sich vor, dem Untersuchungsgrundsatz würde tatsächlich nachgelebt! ?), zwingend ausserkantonale Staatsanwälte bei Verfahren gegen Behördenmitglieder, rechtliches Gehör, Verfügungen und Strafbefehle zwingend per Einschreiben usw.
So würde auch die Zahl der Rechtsmittelverfahren abnehmen. Die meisten Beschuldigten wünschen sich nichts mehr als ein FAIRES Verfahren.
@Lex Audax: Danke dafür!
träumen Sie weiter….
Zudem: Tempolimite geht ja eher in Richtung 80 auf Autobahnen….
Wer aufgehört hat zu Träumen, hat aufgehört zu Leben! Würden Verkehrspolitik und Verkehrsrecht ohne Ideologie gemacht, dann müsste es so sein, wie von mir oben geschildert.
Die Tempo-80 Studie geistert seit den 90er Jahren durchs Netz und wurde schon seinerzeit als unwissenschaftlich und methodisch falsch zerpflückt. Der Verkehrsfluss ist bei 240 km/h genau so gross wie bei 80 km/h. Nur gibt es bei 80 km/h um ein vielfaches mehr Abstandsverstösse.
Zumindest auf Autobahnen ist der Verkehr perfekt selbstregulierend. Je höher das Verkehrsaufkommen, desto langsamer fliesst der Verkehr und umgekehrt. Deswegen sind Tempolimits auch unnötig bzw. kontraproduktiv, wie man bei uns schön sehen kann (Unaufmerksamkeit ist Unfallursache Nr. 1, die Unfallzahlen sind auf dem Niveau der USA und die Tendenz steigend).