Umfragen statt Einvernahmen

Für das Bundesgericht scheint es rechtens zu sein, möglicherweise geschädigte Personen mittels Fragebogen und damit ohne Teilnahmerecht der Verteidigung “einzuvernehmen” und auf die schriftlichen Auskünfte abzustellen. Daran soll sich nicht einmal etwas ändern, wenn die Geschädigten sich als Privatkläger konstituiert und im Fragebogen falsch belehrt werden (BGer 6B_978/2023 vom 11.03.2024, immer noch in zivilrechtslastiger Besetzung):

Im Übrigen trifft zwar zu, dass die als Auskunftsperson einzuvernehmende Privatklägerschaft vor der Staatsanwaltschaft, vor den Gerichten sowie vor der sie im Auftrag der Staatsanwaltschaft einvernehmenden Polizei zur Aussage verpflichtet ist (vgl. oben E. 1.1.1). Der Hinweis auf ein Aussageveweigerungsrecht der Geschädigten erwiese sich damit zwar als falsch. Jedoch steht fest, dass die Geschädigten, welche sich als Privatkläger konstituierten, freiwillig schriftliche Angaben gemacht haben. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, einer oder mehrere Geschädigte hätte gestützt auf die möglicherweise falsche Belehrung von einem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und somit entgegen einer gesetzlichen Pflicht nicht ausgesagt. Eine falsche Rechtsbelehrung wäre daher vorliegend ohne Belang. Der Beschwerdeführer könnte aus einer Verletzung von Art. 180 Abs. 2 StPO nichts für sich ableiten. Insbesondere wären die von den geschädigten Privatklägern freiwillig getätigten Aussagen nicht nach Art. 141 Abs. 2 StPO unverwertbar.  

Der Einwand des Beschwerdeführers, wonach aufgrund der falschen Rechtsbelehrung offenbleibe, ob sich die Befragten in Kenntnis ihrer Aussagepflicht als Privatkläger konstituiert hätten, leuchtet zudem nicht ein. Dies gilt ebenso, wenn er geltend macht, es liege nahe, dass bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts mittels Fragebogen ein anderes Bild entstanden, das Verfahren also anders ausgegangen wäre, da sich eine freiwillig aussagende Person notorischerweise anders verhalte, als wenn sie zur Beantwortung von Fragen gezwungen werde (E. 1.2.2). 

Und dann kommt das Bundesgericht nun halt doch wieder (s. meinen letzten Beitrag dazu) mit dem widerlegten Grundsatz von Treu und Glauben und dem Verbot des Rechtsmissbrauchs (Art. 5 Abs. 3 BV), den die beschuldigte Person verletzt haben soll, indem sie die Konfrontation nicht mir sämtlichen Geschädigten beantragt hatte:

Den vorinstanzlichen Erwägungen ist hingegen nicht zu entnehmen und der Beschwerdeführer macht nicht geltend, dass er im Verfahren je Einwände gegen die mittels Fragebogen der Staatsanwaltschaft eingeholten Angaben der Geschädigten resp. Privatkläger erhoben oder eine förmliche Konfrontation mit sämtlichen Geschädigten verlangt hätte. Vor diesem Hintergrund ist, entgegen seinem Einwand, von einem Verzicht des anwaltlich vertretenen Beschwerdeführers auf Konfrontation mit sämtlichen Geschädigten auszugehen. Der von ihm angeführte BGE 124 V 90 führt zu keinem anderen Ergebnis, setzt doch nach diesem Entscheid die zusätzliche, persönliche Einvernahme der mittels schriftlichem Bericht befragten Personen ein Ersuchen der dies verlangenden Partei voraus.  

Zudem ist es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Verbot des Rechtsmissbrauchs (Art. 5 Abs. 3 BV) nicht zulässig, formelle Rügen, die in einem früheren Prozessstadium hätten geltend gemacht werden können, bei ungünstigem Ausgang später vorzubringen (BGE 143 V 66 E. 4.3 mit Hinweisen). Die Parteien haben (echte oder vermeintliche) formelle Mängel so früh wie möglich, d.h. bei der ersten Gelegenheit, geltend zu machen, und können diese Rügen nicht für das Rechtsmittelverfahren im Falle eines für sie ungünstigen Ausgangs des Verfahrens “aufsparen” (Urteil 6B_1395/2021 vom 9. Dezember 2022 E. 6.3.2 mit Hinweisen). Wie dargestellt, ist nicht ersichtlich und macht der Beschwerdeführer nicht geltend, dass er die persönliche Konfrontation mit sämtlichen Geschädigten rechtzeitig verlangt hätte. Dass er von deren Angaben Kenntnis nahm und sie somit hinreichend kritisieren konnte, bestreitet er nicht. Dass der Beschwerdeführer nur mit einzelnen Geschädigten im Rahmen persönlicher Einvernahmen konfrontiert wurde, steht mithin der Verwertbarkeit der übrigen Geschädigtenangaben nicht entgegen. Ob der Sachverhalt, insbesondere mit Blick auf die von der Vorinstanz bejahte Opfermitverantwortung sowie das Vorliegen eines besonderen Vertrauensverhältnisses, genügend erstellt ist, ist nachfolgend im Rahmen der Beweiswürdigung zu prüfen (unten E. 3) [E. 2.2.2].