Umorganisation am Bundesgericht?
An einem heute publizierten Bundesgerichtsentscheid der Strafrechtlichen Abteilung (BGer 6B_1257/2020 vom 12.04.2021) gehörte Bundesrichter Rüedi dem Spruchkörper an. Rüedi gehört eigentlich der Ersten zivilrechtlichen Abteilung an. Ob er wirklich mitgewirkt hat wage ich aus der Ferne jetzt einfach einmal zu bezweifeln.
Da es sich um einen einfachen „Standartfall“ handelt, wird ohnehin nur der Gerichtsschreiber und höchstens noch die mit dem Fall betraute Referentin/Referent die Akten gelesen haben. Von dem her Business as usual am Bundesgericht.
Ohnehin könnte man das auch einfach Mal transparent kommunizieren, wie etwa in Deutschland am BGH. Dort ist klar, dass nur der Präsident der Abteilung (bzw. des Senates) und der mit dem Fall betraute Richter („Referent“), der ein entsprechendes Referat und den Urteilsvorschlag ausarbeitet, die Akten kennt. Nur bei Unklarheiten (hinsichtlich des Sachverhaltes) schauen sich die übrigen Richterinnen und Richter (so wie ich das im Kopf habe am BGH immer 5er-Spruchkörper) auch die Akten an.
Das wurde im Übrigen vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erklärt.
Man sollte auch in der Schweiz endlich reinen Wein einschenken und die Politik soll sagen was man eigentlich für ein Höchstgericht will: Entweder stockt man die Anzahl Richterinnen und Richter massiv auf (mind. 7 pro Abteilung; in der strafrechtlichen eher 8) oder man kommuniziert offen, dass eigentlich die Gerichtsschreiber die „normalen“ Fälle entscheiden. Der dritte Weg wäre den Zugang zum BGer einzuschränken, was politisch aber nicht mehrheitsfähig war…
@ Tom
Es gab eine Praxis in der Spätzeit der UdSSR als „Sekretere“ (meist Doktoranten die ihre Station dort machten) die den Richtern die Urteile schrieben. Sie legten es nur zur Unterschrift vor. Das war im Arbeitsprozess die Regel und führte zu einer Rechtsprechung die von der Bevölkerung nicht nachvollzogen werden konnte. Ich merkte das lustigerweise stets an Handschriftlichen Vermerken in den Parteivorträgen. Hier war keine Politik im Spiel, sondern einfach faule Richter welche sich lieber mit anderen Aufgaben (Rechtslehre schreiben zbs.) beschäftigten.
Diese Praxis wurde in den 90er Jahren in Litauen übernommen und gerade pensionierte Richter aus der Bundesrepublik oder Österreich (auch Neunmalschlau bei uns genannt) welche bei uns zwecks EU Beitritt unsere Justiz versuchte zu reformieren monierten es stets. Unvereinbar mit EU-Recht, unvereinbar mit der EMRK. Böser böser Finger. Was gegen die 00er Jahre zur Abschaffung dieser Praxis führte und nun tatsächlich jeder beteiligter Richter durch Unterschrift und Kurzbericht wieso er zu diesen Erwägungen kam sichergestellt wurde. Die Bearbeitungszeiten dadurch massiv stiegen, aber schliesslich zu weniger Probleme in der öffentlichen Wahrnehmung führte. Diskussionen wie bei Ihnen existieren nicht mehr.
Als Gegenbeispiel haben sie zbs. Polen, wo diese „sozialistische Praxis mit den Sekreteren“ ja zu einer Rechtsprechung führte welche von grossen Teilen der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wurde, eine Partei sich dann dieser Probleme bediente um das polnische Justizsystem politisch zu beinflussen.
Kurz, der gesetzliche Richter ist sicherlich kein Gerichtsschreiber…. auch wenn das Deutsche Bundesverfassungsgericht oder das Bundesgericht findet.. vermutlich würde eine EU Mitgliedschaft der Schweiz schon an dieser Praxis scheitern
@tades. Zum glück wollen wir ja nicht eu mitglied werden.
Kurz vorab: Das Bundesverfassungsgericht hat nichts über Gerichtsschreiber am BGH gutgeheissen (die es dort so gar nicht gibt), sondern lediglich die Lage wie ich sie oben beschreiben habe beurteilt
Auch ich bin kein Freund der – überspitzt ausgedrückt – „Gerichtsschreiberjustiz“ wie sie am Bundesgericht praktiziert wird. Das ist aber ein politischer Entscheid, wie viele Richterressourcen man stellen will (das es am Bundesgericht viel zu wenig sind, kann man ja schon anhand der massiv gestiegenen Fallzahlen der letzten 20 Jahre bei fast gleichbleibenden Richterstellen erkennen).
Und letztlich ist es so, dass die Richter das Urteil unterschreiben bzw. fällen und auch die Verantwortung dafür tragen (freilich haben sie kaum Konsequenzen zu befürchten).
Weiter ist es auch keineswegs so, dass die Richter/innen die besseren Juristen als die Gerichtsschreiber/innen wären. Viel mehr landen wohl auch Juristen/innen als Richter/innen in Lausanne und Luzern die vor allem deshalb ausgewählt werden, weil es parteipolitisch gerade passt bzw. sie mit ihrer Partei „gut können“, wohingegen die Gerichtsschreiber/innen wohl vornehmlich wegen ihrer (guten) juristischen Fertigkeiten angestellt werden.
Ich sehe die Problematik eher darin, dass wenn das Urteil vor allem von einer Person bestimmt wird, die Vorzüge des Kollegialgerichts (3er oder 5er Besetzung) kaum spielen.
Aber im Grundsatz, dass die Literatur und ein (erster) Entwurf von Gerichtsschreiber/innen zusammengetragen/verfasst werden, sehe ich kein Problem. Es ist übrigens auch am Bundesverfassungsgericht so, dass jeder Richter, jede Richterin ca. 4 wissenschaftliche Mitarbeiter hat und Aufgaben wie Literaturrecherche und erste Entwürfe übernehmen. Der Unterschied zum Bundesgericht liegt aber zum einen darin, dass am Bundesverfassungsgericht in den wichtigen Fällen Verhandlungen stattfinden wo Experten usw. befragt werden und zum zweiten, dass bei den Leiturteilen Satz für Satz der Urteile im 8er Gremium durchgegangen/vorgelesen werden.
Und das sieht man regelmässig daran, dass die Urteile des deutschen Bundesverfassungsgericht besser zu Ende gedacht sind als diejenigen des Bundesgerichts, bzw. alle Argumente und Positionen eingehend gewürdigt werden.
Was schliesslich die Bemerkung betreffend EMRK-Konformität und EU-Mitgliedschaft betrifft: Soweit ich weiss wurde die Schweiz dahingehend bisher nicht vom EGMR gerügt. Die Schweiz Urteile werden generell im Vergleich zu anderen Europaratsstaaten nur selten gekippt (weshalb die Schweizer Rechtsprechung zumindest im Hinblick auf die EMRK nicht so schlecht sein kann).
Hinsichtlich eines EU-Beitrittes sollte man dann aber schleunigst Polen und Ungarn aus der EU werfen, man der Auffassung wäre die Schweiz wäre nicht rechtsstaatlich genug um Mitglied zu werden.
@ Tom
Genau, Schweiz gehört nicht rein, Ungarn und Polen raus. Keiner dieser Staaten sehe ich als Rechtstaat