Und noch einmal: Konfrontation
Erneut wird eine Vorinstanz darin geschützt, auf eine nicht konfrontierte Aussage abgestellt zu haben (BGer 1265/2021 vom 29.12.2022). Diesmal wird dem Beschwerdeführer zum Verhängnis, dass er auf den Konfrontationsanspruch verzichtet haben soll:
Vorliegend wurde soweit ersichtlich keine Konfrontationseinvernahme mit C. durchgeführt. Die Vorinstanz stellt gleichwohl auf dessen Schilderungen ab (vgl. angefochtenes Urteil Ziff. 2.4.2.5 S. 24 und Ziff. 2.4.2.7 f. S. 24 ff.). Dies ist nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer behauptet nicht, dass er jemals eine Konfrontation mit C. beantragt habe. Solches kann auch dem angefochtenen Urteil nicht entnommen werden. Es ist daher von einem Verzicht auf das Konfrontationsrecht im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung auszugehen. Die Aussagen von C. sind damit verwertbar (E. 2.3).
Wohlverstanden, ob der Beschwerdeführer eine Konfrontation beantragt hat, spielte keine Rolle. Entscheidend war, dass er nicht behauptet hat, die Konfrontation beantragt zu haben.
Diese Rechtsprechung ist nicht neu und ich will sie hier auch gar nicht kritisieren. Was mir aber nicht in den Kopf will ist, wie ein Strafrichter auf eine belastende Aussage abstellen kann, ohne den Belastungszeugen persönlich und in Anwesenheit der beschuldigten Person befragt zu haben.
Ohne den Entscheid gelesen zu haben: Hat der Bf denn nun rechtzeitig die Konfrontation beantragt? Falls nein, sehe ich kein Problem.
Ohne die EMRK gelesen zu haben: Stehen einem die dort enthaltenen Rechte nur zu, wenn man sie rechtzeitig beantragt? Falls nein, sehe ich ein Problem.
In diesem Fall klar ja. Der Konfrontationsanspruch ist ein Recht, auf welches man verzichten kann. Das ist nicht nur ständige Rechtsprechung, sondern macht auch völlig Sinn, weil in den allermeisten Fällen (gerade auch im Bagatellbereich) die Konfrontation aller (!) Zeugen etc. gar nicht notwendig ist. Es ist daher völlig legitim eine Verletzung des Konfrontationsanspruchs nur dann anzunehmen, wenn die Konfrontation auch tatsächlich beantragt, in der Folge aber verweigert, wurde.
@HP Seipp: einverstanden. Qas ich trotzdem nicht verstehe ist, dass Gerichte Konf.-Ev. pektisch nie von sich aus durchführen. War doch bereits in der Bibel als unverzichtbares Instrument der Wahrheitsfindung erkannt worden.
kj: Darf ich Sie mal fragen, worin Sie den Unterschied zwischen Teilnahmerecht und Konfrontationsanspruch sehen?
@HP Seipp: Teilnahmerecht ist das Recht, bei Beweiserhebungen teilzunehmen und ggf auch Ergänzungsfragen zu stellen. Das ist in Art. 147 StPO umschrieben. Die Konfrontation ist eine qualifizierte Teilnahme. Wenn mich als beschuldigte Person jemand belastet, darf ich die Belastung auf die Probe stellen lassen, indem sie in meiner Anwesenheit und vor dem Richter (heute soll nach h.L. wohl auch ein StA im Vorverfahren reichen, was ich falsch finde) erfolgen bzw. wiederholt werden muss. Werde ich in meiner Abwesenheit belastet, ist die belastende Aussage nur verwertbar, wenn ich rechtswirksam auf die Konfrontation verzichte. In der Konfrontationseinvernahme befragt die VL den Belastungszeugen und gibt mir anschliessend direkt Gelegenheit, mich dazu zu äussern und dem Belastungszeugen auch Fragen zu stellen. Etwa so verstehe ich das.
Ich denke nicht, dass man behaupten kann, es hat keine Rolle gespielt, ob der Beschwerdeführer eine Konfrontation beantragt hat, sondern nur, was er nicht behauptet hat. Sonst hätte das Bundesgericht nicht darauf hingewiesen, das solches dem Urteil auch nicht zu entnehmen sei. Diese Bemerkung kann man zumindest so interpretieren, dass man (vielleicht) anders entschieden hätte, wenn sich ein entsprechender Beweisantrag zumindest aus dem Urteil ergeben hätte. Oder sehe ich das falsch?
@Stephan: Nein, da hast Du schone einen Punkt, den man aus der Begründung ableiten kann. Und trotzdem: entscheidend für das BGer war doch letztlich nur, dass er nicht behauptet habe, die Konfrontation beantragt zu haben; dies verstärkt um den Umstand, dass aus dem angefochtenen Urteil nicht hervorgeht, er habe K beantragt. Auch hier wäre die Beschwerdeschrift hilfreich, zumal auch hier der Beschwerdeführer durch einen sehr sorgfältig arbeitenden, erfahrenen Anwalt vertreten war.
Die Rechtsprechung des Bundesgrichts, die Konfrontation müsse beantragt werden, ist mit der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR nicht in Einklang zu bringen.
Ganz im Gegenteil, ist ein «freiwilliger Verzicht» auf die Garantien von Art. 6 sogar an Bedingungen geknüpft (z. B. dass kein öffentliches Interesse entgegensteht). Der Verzicht muss auf «unmissverständliche Weise und unter Bedingungen erklärt werden, die keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass der Erklärende unbeeinflusst und ohne Beeinträchtigung … handelt und sich über die Tragweite seines Handelns bewusst ist» (Peukert, N3 zu Art. 6 EMRK).
Die Wahrung von grundlegenden Verfahrensrechten liegt eindeutig im öffentlichen Interesse. Für den Verzicht bedarf es explizit eines aktiven Handelns. Ein stillschweigender Verzicht, wie ihn das BGer propagiert, ist also gar nicht möglich.
Die Rechte aus Art. 6 EMRK haben die Vertragsstaaten zu garantieren. «Die Rechte stehen jeder Person zu» (Peukert, N4 zu Art. 6 EMRK). Da bleibt einfach kein Spielraum für einen Antrag.
Die Behauptung, dass es nicht mit der Rechtsprechung des EGMR kompatibel sei, dass eine Konfrontation beantragt werden müsse, müssten Sie schon anhand von dessen Rechtsprechung belegen. So wurde ein solcher Verzicht z.B. im Fall MURTAZALIYEVA v. RUSSIA (https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-187932) bejaht. In diesem Fall hatte die Verteidigung der Verlesung eines vorprozessualen Protokolls zugestimmt bzw. dem nicht widersprochen und hatte ihren Antrag auf persönliche Einvernahme des Zeugen nicht nochmals in der Verhandlung wiederholt. Nach russischem Strafprozessrecht hätte ein Widerspruch und ein Bestehen auf der Zeugenladung die Verwertung jedoch verhindern können. Auch in der Berufung wurde kein Antrag auf Konfrontation gestellt. Der EGMR verneinte daher eine Verletzung des Konfrontationsrechts (§§ 114 ff.).
Nicht anders ist es nach schweizerischem Prozessrecht. Eine Verwertung kann unterbunden werden, indem die Verteidigung auf die Unverwertbarkeit einer Aussage mangels Konfrontation hinweist und dem Antrag, stellt, falls das Gericht darauf abstellen will, solle der Zeuge parteiöffentlich befragt werden. Das sollte man als Verteidiger eigentlich wissen. Im oben genannten Fall war das rechtliche Wissen der Anwälte übrigens ein wichtiges Element, für die Annahme eines Verzichts.
Die Rsp des BGer geht aber weiter als der EGMR in MURTAZALIYEVA v. RUSSIA. In dem Entscheid steht: “Before an accused can be said to have implicitly, through his conduct, waived an important right under Article 6, it must be shown that he could reasonably have foreseen what the consequences of his conduct would be.” Wenn ich als Verteidiger der Verlesung von Aussagen zustimme/nicht widerspreche und das dann nach russischem StPR offenbar ohne erneute Vernehmung verwertet werden darf, kann ich die Verwertung ja voraussehen und dann kann meine Zustimmung/mein Nichtwidersprechen auch als impliziter Verzicht auf die Konf. ausgelegt werden.
Aber wenn ich gegenüber dem Gericht vorbringe, eine Aussage ist unverwertbar, weil nicht konfrontiert wurde, kann/muss ich doch nicht voraussehen, dass dann einfach trotzdem darauf abgestellt wird. Das ist ja ein eindeutiges Statement ans Gericht: die unkonfrontierte Aussage akzeptiere ich nicht, ladet ihr den Zeugen erneut vor, wenn ihr darauf abstellen wollt, oder stellt halt nicht darauf ab. Was ergibt denn das für einen Sinn, dass ich die Erhebung des Beweises, den ich weghaben will, erst recht beantragen muss, weil man mir sonst unterstellt, ich hätte ihn akzeptiert (obwohl ich ja ausdrücklich gesagt habe, er ist mE nicht verwertbar)?
Ist schon klar, dass man (leider) als Verteidiger wissen sollte, dass die blosse Unverwertbarkeitsrüge ohne expliziten Antrag auf erneute Befragung vom BGer als Verzicht ausgelegt wird, EMRK-konform ist es deshalb nicht. Dazu und zu anderen konstruierten Mitwirkungspflichten der beschuldigten Person im Strafverfahren gibt es einen sehr guten Aufsatz im Tagungsband 10 Jahre StPO (“Von Treu und Glauben im Strafverfahren”).
Wenn die Praxis des BGer so klar EGMR-konform ist, sollte es doch kein Problem sein, dies anhand von passenden EGMR-Entscheiden zu belegen? Ich leg mal für meine Position vor: Im Fall EGMR Bricmont gegen Belgien (Nr. 10857/84) hat der Gerichtshof bereits 1989 ausgeführt: “Like the Commission, the Court considers that it does not have to ascertain whether the failure to take evidence from Mr Gruner and Mr Casse contravened paragraphs 1 and 3 (d) of Article 6 (art. 6-1, art. 6-3-d) taken together. Mr Gruner died between the hearings before the chambre du conseil and the trial at the tribunal de première instance and the applicants did not apply to the Court of Appeal for evidence to be heard from Mr Casse.” (§ 88). Oder wie wäre es mit dem Fall EGMR Solakov gegen FYRM (47023/99) aus dem Jahr 2001: “Turning to the trial and the appellate stage of the proceedings the Court observes that the applicant never complained that he had been unable to cross-examine the witnesses in question due to lack of time or information, nor did he expressly ask for the witnesses to be summoned.” (§ 61)