Und noch einmal: Überlastete Strafjustiz?
In den Kantonen ZH, SH, BS, BL und SO scheint die Justiz alles andere als überlastet zu sein. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich in den letzten Tagen aus diesen Kantonen mit sehr kurzfristigen Terminvorschlägen für teilweise mehrtätige Verhandlungen eingedeckt werde, die alle noch diese August/September 2023 stattfinden sollen. Angesichts des bereits jetzt mit Verhandlungsterminen vollgepackten Spätsommers kollabiert demnächst nicht die Justiz, sondern die Verteidigung. Geht das allen so?
Nein, ganz im Gegenteil. Alle bessern noch ihre Statistik auf, bevor im Herbst wieder parlamentarische Inspektionen stattfinden, um wieder (Erneuerungs-)Wahlvorschläge und Bestätigungswahlen vorzubereiten. Underperformer wollen noch khre Statistik aufbessern. In dem meisten Kantonen ist im Herbst, Ende September oder Ende Oktober Tag der Abrechnung.
Das ist ja das Ziel des ganzen Manövers: In den Augen der Justiz ist eine Verteidigung doch überflüssig. Deshalb sind auch Teilnahmrechte etc. unnötig. Grössenwahn scheint wieder populär zu sein: Richter Ankläger und Henker in Personalunion. Das geht doch ganz flott. In der Retrospektive hat man dann die Justiz von damals als Unrecht verunglimpft (Radbruch‘sche Formel). Ob es eine weitere Retrospektive geben wird, wage ich zu bezweifeln, aber mehr weil ich befürchte, dass es niemandem geben wird, der diese Perspektive einnehmen könnte, als dass ich nicht glaube, dass es soweit kommen könnte. Darum hole ich die ausbleibende Perspektive schon mal vor: Die in den Medien geäusserte Kritik, dass zuviel Verteidigung am Kollaps der Justiz Schuld sein soll – und nicht etwa die völlig verfehlte Schwerpunktsetzung der Strafbehörden und der fehlende Mut zu Freisprüchen der Gerichte, wenn überhaupt -, hat in einem freiheitsliebenden Rechtsstaat nichts zu suchen und steht gedanklich totalitären Staatsideologien nahe, die wir nicht noch einmal durchexerzieren wollen.
@Andreas Noll: Strafrichter sind Strafrichter, nicht Freispruchsrichter.
Die Verteidiger sind ohnehin immer alle überlastet…und findet man einen ist er inkompetent oder unmotiviert..,das ergibt Kollateralschäden…
Das hat nach meiner Erfahrung mit dem Mikromanagment der Anwälte in der Schweiz zu tun sowie der inneren Forderung sich auf ein fixes Gehalt auf über 8000 im Monat. . Wegen der sehr hohen Personalkosten und Mieten, bzw. auch den Drang oft in den teuersten Ecken der Schweiz einzumieten und Einkommenszielsetzungen muss sehr viel selber gemacht werden.
Beispiel meine Kanzlei in Litauen im letzten Jahr meiner Tätigkeit ( vor Covid).
Fixkosten im Jahr 71 310 Euro im Jahr aus Umlagen, Grundsteuern (keine Miete, sondern bescheidenes Eigentum in einem Vorort) sowie Lohnkosten für zwei Vollzeitangestellte Bürokräfte sowie eine Volljuristin.
Einnahmen aus 917 Kostenliquidationen 117 700 Euro.
Weniger Einkommen als bei Schweizer Kollegen jedoch bleibt viel mehr Geld übrig und es lebt sich sehr fein.. vor allem viel weniger Stress.
Vielleicht will man einfach dem Beschleunigungsgebot Rechnung tragen. Aber das ist nun offenbar auch wieder nicht recht. Dass man viele Verhandlungen reinpferchen will/muss, ist wohl eher ein Indiz für eine Überlastung als dagegen.
@DR: So habe ich das noch gar nicht gesehen. Danke.