Und nochmals zur Rückzugsfiktion
Ähnlich wie in meinem letzten Beitrag hat ein Beschuldigter in einem Strafbefehlsverfahren versucht, sich in die Verjährung zu retten. Er blieb damit aber erfolglos (BGer 6B_463/2021 vom 02.11.2022, Fünferbesetzung), u.a. weil er in der Schweiz wohnt, wo Vorladungen unter rechtswirksamer Androhung von Nachteilen zugestellt werden können. Dem Beschuldigten half auch nicht, dass die Vorladungsfrist (Art. 202 f. StPO) wegen drohenden Verjährungseintritts unterschritten wurde. Ebenso wenig halt ihm, dass die Verfahrensverzögerungen, welche das Verfahren an den Rand der Verjährung brachten, durch die Behörden verursacht waren,
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist grundsätzlich nicht entscheidend, wer die drohende Verjährung zu verantworten hat (STEFAN CHRISTEN, Anwesenheitsrecht im schweizerischen Strafprozessrecht mit einem Exkurs zur Vorladung, 2010, S. 111; a.M.: ULRICH WEDER, a.a.O., N. 8a zu Art. 203 StPO; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., 2. Aufl. 2016, N. 5 zu Art. 203 StPO mit Verweis auf CHATTON/DROZ, a.a.O., N. 7 zu Art. 203 StPO). Auch eine allein durch die Strafverfolgungsbehörden verursachte Verfahrensverzögerung und die dadurch drohende Verjährung schliesst eine Verkürzung der gesetzlichen Vorladungsfristen im Sinne von Art. 203 Abs. 1 lit. a StPO grundsätzlich nicht aus. Es dürfte im Einzelfall denn auch schwierig und kaum praktikabel sein, eine klare Abgrenzung vorzunehmen zwischen einer Verfahrensverlängerung aufgrund der Wahrnehmung von Verfahrensrechten der beschuldigten Person einerseits und einer Verfahrensverlängerung wegen Verfahrenshandlungen, die allein die Verzögerung des Verfahrens bezwecken sollen, andererseits. Abgrenzungsschwierigkeiten ergäben sich ausserdem dort, wo sowohl die Strafbehörden als auch die beschuldigte Person oder andere Beteiligte zur Verfahrensverzögerung beigetragen haben, mithin die Dringlichkeit von mehreren Beteiligten in unterschiedlichem Masse verursacht wurde. Ferner sind auch die Interessen eines Privatklägers zu berücksichtigen, für den – wie hier – die Frage der Zulässigkeit der Verkürzung der Vorladungsfrist ebenfalls von erheblicher Bedeutung sein kann.
Soweit das Urteil 6B_1165/2020 vom 10. Juni 2021 E. 3.2.1 auch einen anderen Schluss zulässt, ist dies entsprechend zu präzisieren. Auch dem BGE 131 I 185, auf den im Urteil 6B_1165/2020 vom 10. Juni 2021 in E. 3.2.1 in fine verwiesen wird, lässt sich im Übrigen keine Aussage dergestalt entnehmen, dass im Falle von organisatorischen Mängeln oder von durch die Strafbehörden verursachten Verzögerungen keine Dringlichkeit im Sinne von Art. 203 Abs. 1 lit. a StPO vorliege (E. 4.1.2).
Unbehelflich war auch der Umstand, dass der Anwalt für die kurzfristig angesetzte Verhandlung nicht verfügbar war (keine notwendige Verteidigung):
Es trifft sodann zwar zu, dass die beschuldigte Person gemäss Art. 129 Abs. 1 StPO berechtigt ist, in jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand im Sinne von Art. 127 Abs. 5 StPO mit ihrer Verteidigung zu betrauen (vgl. auch Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK), wie der Beschwerdeführer sinngemäss geltend macht, indem er sich auf sein Recht auf wirksame Verteidigung beruft. Soweit er daraus und insbesondere gestützt auf Art. 336 Abs. 5 StPO ableitet, er habe Anspruch auf Verschiebung der Hauptverhandlung gehabt, kann ihm indessen nicht gefolgt werden. Diese Bestimmung sieht lediglich für den Fall des Fernbleibens der amtlichen oder notwendigen Verteidigung eine Verschiebung der Verhandlung vor. Vorliegend handelt es sich unbestritten um keinen Fall einer amtlichen (vgl. Art. 132 StPO) oder notwendigen (vgl. Art. 130 StPO) Verteidigung, weshalb Art. 336 Abs. 5 StPO nicht einschlägig ist (vgl. Urteil 6B_342/2018 vom 6. Februar 2019 E. 2.3). Dessen ungeachtet durfte die Vorinstanz angesichts der schon wenige Tage nach dem angesetzten Verhandlungstermin einsetzenden Verjährung sowie unter Berücksichtigung der Parteirechte des Privatklägers von einer Verschiebung der Hauptverhandlung absehen, ohne dadurch das Recht des Beschwerdeführers auf erbetene Verteidigung zu verletzen (vgl. BGE 145 IV 407 E. 1.5 mit Hinweisen; vgl. auch NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rz. 1887). Dabei ist zu betonen, dass der Beschwerdeführer in seinen Verschiebungsgesuchen nie behauptet hat, dass das Festhalten am Verhandlungstermin vom 21. August 2020 sein Recht auf Wahlverteidigung verletze. Vielmehr hat er stets eine Terminkollision geltend gemacht und damit klar zum Ausdruck gebracht, dass er seinen beruflichen Termin keinesfalls verschieben würde (E. 4.2.6).
Und weil die Rückzugsfiktion unmittelbar vor Eintritt der Verjährung griff (vgl. dazu meinen letzten Beitrag), war diese hier auch nicht zu beachten.
Falsch gespielt vom offenbar nicht ganz mittellosen Beschuldigten (siehe Höhe des Tagessatzes). Er hätte auf jeden Fall zur Verhandlung erscheinen müssen. Die Frage ist einzig, ob mit neuem Verteidiger, der korrekterweise geltend macht, dass es ihm in der kurzen Zeit nicht möglich war, sich in den Fall einzuarbeiten, womit ohne Verschiebung der Verhandlung das Verteidigungsrecht seines Mandanten verletzt sei, oder ob der Beschuldigte ohne Verteidigung zur Verhandlung hätte erscheinen und dort beantragen sollen, es müsse ihm Gelegenheit gegeben werden, einen neuen Verteidiger beizuziehen (Recht auf Beizug eines Verteidigers in jedem Verfahrensstadium).
Ich finde es bedenklich, dass der Fall nach vier Jahren herumdümpeln in der Obwaldner Justiz nicht wegen der Verletzung des Beschleunigungsgebots eingestellt wurde. Das Strafverfahren war für alle Beteiligten wohl eine höhere Belastung als es die nun rechtskräftige Strafe sein kann.
Die Höhe des Tagessatzes finde ich auch bemerkenswert. ^^