Unerhörte Zeugen
Das Gericht erhebt im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobene Beweise nochmals, sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint (Art. 343 Abs. 2 StPO). Das Bundesgericht erklärt der Justiz des Kantons AG, dass dies insbesondere in Fällen gilt, in denen eine Zeugenaussage als einziges Beweismittel für einen Schuldspruch dient (BGer 6B_1177/2019 vom 17.06.2020):
Die Zeugenaussage war das einzige Beweismittel zur für den Schuldspruch ausschlaggebenden Feststellung, kein entgegenkommendes Fahrzeug sei in den Unfallhergang involviert gewesen. Der Beschwerdeführer hatte im gerichtlichen Hauptverfahren beweisrechtliche und aussagepsychologische Einwendungen erhoben (vgl. erstinstanzliches Urteil vom 30. November 2018 S. 8 E. 3.3.5; oben E. 2.3), was die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage und ihre Plausibilität angeht. Unter diesen Umständen war eine eingehendere gerichtliche Erhebung der Aussagegenese geboten. Die Vorinstanz hat verkannt, dass die erste Instanz das ihr zustehende Ermessen unterschritten hat, indem sie eine eigene Einvernahme des Zeugen unterliess, ohne sich mit den einschlägigen Vorbringen des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen. Dies verletzt Art. 343 Abs. 3 StPO (E. 3.2).
Leider geht aus dem Entscheid nicht hervor, ob die Verteidigung jemals die Einvernahme des Zeugen vor Gericht beantragt hatte. Davon gehe ich nicht aus und es wäre m.E. auch nicht relevant. Andererseits frage ich mich, wieso das Bundesgericht überhaupt eingetreten ist (Instanzenzug/Willkür). Eine Erwägung über das Eintreten unterlässt das Bundesgericht. Es weist die Sache direkt an die erste Instanz zurück.
All das zeigt im Ergebnis eigentlich auch nur, dass selbst Beschwerden an das Bundesgericht nie aussichtslos sind. Manchmal gewinnt auch, wer eigentlich bereits an der Eintretenshürde scheitern müsste.
bundesgericht als blackbox,
rückweisung an erste instanz ist konsequent! daumen hoch
Ist aus der vom Bundesgericht vorgenommenen Rückweisung an das Bezirksgericht zu schliessen, dass bereits das Obergericht die Sache wegen fehlender Einvernahme eines Zeugen hätte zurückweisen müssen? Und falls ja, steht das nicht im Widerspruch zu den anderen Entscheiden in diesem Blog, dass das Obergericht bei fehlender Zeugeneinvernahme gerade nicht zurückweisen darf sondern den Zeugen selber einvernehmen muss?
@double instance: bin nicht sicher. Ich glaube, die Vorinstanz hätte den Zeugen befragen müssen, dies auch ohne Antrag der Parteien und auch ohne Rückweisung an die erste Instanz. Andererseits war es ja ein Übertretungsstrafverfahren.
Meines Erachtens konnte/durfte das Obergericht hier gar keine Einvernahmen durchführen (Art. 398 Abs. 4 Satz 2 StPO). Folglich wäre die Rückweisung hier wohl zulässig gewesen.
@gs. Sehe ich auch so. Das og hat in dieser konstellation ohnehin nur willkürkognition, wie bundesgericht sonst. Würde das og den sachverhalt vervollständigen und sich in der folge nur fragen, ob willkür vorliegt, würde die rechtsweggarantie nicht gewahrt (mind. Ein gericht mit voller kognition muss prüfen).
Das hat das Bundesgericht in einem Solothurner Fall auch schon anders gesehen: BGE 6B_362/2012 Erw. 8.4.1: … Dies gilt auch, wenn die Kognition des Berufungsgerichts bei Übertretungen in Tatfragen auf Willkür (Art. 398 Abs. 4 StPO; oben E. 5.2) beschränkt ist (vgl. HUG, a.a.O., N. 8 zu Art. 409 StPO; a.M. GOLDSCHMID/MAURER/SOLLBERGER, Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2008, S. 391; KISTLER VIANIN, a.a.O., N. 30 zu Art. 398 StPO; EUGSTER, a.a.O., N. 3 zu Art. 398 StPO). Art. 408 StPO unterscheidet nicht danach, ob im Berufungsverfahren Verbrechen bzw. Vergehen oder blosse Übertretungen zu beurteilen sind.
@steinpilz. Interessant ist, dass es in der lehre offenbar drei abweichende meinungen gibt und das bg in diesem entscheid der minderheitsmeinung folgte. Die erw. Des bg erscheint mir fraglich. Wenn das berufungsgericht eine willkürliche sachverhaltsfeststellung erkennt, ist darin doch ein gravierender mangel im erstinstanzlichen verfahren zu sehen. Und ein solcher erlaubt eine rückweisung. Nach meiner ansicht ist die rückweisung sogar geboten. Merkwürdig auch, weshalb es bei geringfügigen delikten einer besonders beförderlichen erledigung bedürfte. Ist es nicht gerade so, dass schwere delikte prioritär sind und irgendein büsschen über 200 franken warten kann?