Ungenügendes psychiatrisches Gutachten
Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde gegen die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme nach Art. 59 StGB gut (BGer 7B_197/2023 vom 14.04..2023), weil sich der Gutachter zu einer der entscheidenden Fragen gar nicht geäussert hat.
Abstrakt:
Ein Gutachten stellt namentlich dann keine rechtsgenügliche Grundlage dar, wenn gewichtige, zuverlässig begründete Tatsachen oder Indizien die Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich erschüttern. Das trifft etwa zu, wenn der Sachverständige die an ihn gestellten Fragen nicht beantwortet, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen nicht begründet, diese in sich widersprüchlich sind oder die Expertise sonst an Mängeln krankt, die derart offensichtlich sind, dass sie auch ohne spezielles Fachwissen erkennbar sind (E. 4.2.6).
Konkret:
Zusammenfassend liegt kein psychiatrisches Gutachten im Sinne von Art. 56 Abs. 3 StGB vor, welches sich zur Eignung einer stationären therapeutischen Massnahme nach Art. 59 StGB zur Verbesserung der Legalprognose des Beschwerdeführers äussert. Folglich bleibt die Frage, ob durch eine solche Massnahme über die Dauer von fünf Jahren die Gefahr weiterer mit der psychischen Störung des Beschwerdeführers in Zusammenhang stehender Straftaten deutlich verringern lässt (Art. 59 Abs. 1 lit. b StGB), unbeantwortet. Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz ein ergänzendes Gutachten zu dieser Frage einzuholen. Die Vorinstanz wird nach Eingang des Gutachtens unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen darüber entscheiden müssen, ob eine stationäre therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB zur Verbesserung der Legalprognose des Beschwerdeführers geeignet, erforderlich und verhältnismässig i.e.S. ist (E. 4.3.4, Hervorhebungen durch mich).
Kritik:
So musste entschieden werden und es bleibt zu hoffen, dass die II. strafrechtliche Abteilung auch künftig so entscheiden wird, wenn ein Gutachter nicht sagen kann, dass sich durch die Massnahme über die Dauer von fünf Jahren die Gefahr weiterer mit der psychischen Störung in Zusammenhang stehender Straftaten deutlich verringern lässt. Das ist nämlich praktisch nie der Fall.
Die spannendere Frage scheint mir, ob dieser Fall dank der erfolgreichen Beschwerde der Verteidigung noch in die eventualiter beantragte Verwahrung münden könnte oder ob die reformatio in peius zumindest vorerst das noch zu verhindern vermag.. Meines Wissens nein, aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.
Die Anordnung einer Verwahrung anstelle der bisher angeordneten stationären Massnahme wäre durchaus möglich: Kein Verbot der reformatio in peius bei einem Austausch von Massnahmen, vgl. hierzu BSK StGB-HEER, 4. Aufl. 2019, N. 22 ff., insb. 29a zu Art. 56 StGB sowie BGE 123 IV 1 und BGE 144 IV 113. Ist allerdings umstritten, und die (herrschende?) Lehre sieht es anders.
@kj: Bezüglich Verringerung Rückfallgefahr innerhalb von 5 Jahren: Einverstanden – dann soll halt einfach direkt verwahrt werden….denn eine andere Möglichkeit wird es in Fällen wie dem vorliegenden nicht geben.
Aber das in casu nach einem neuen Gutachten eine Massnahme nach 59 angeordnet wird, ist ja jetzt schon sonnenklar. Und die 5 Jahre laufen dann ab Rechtskraft Urteil. „Gewonnen“ hat er somit nichts. Im Gegenteil…
@Anonymous: Der konkrete Fall interessiert mich nicht, zumal ich viel zu wenig weiss. Die Verwahrung ist aber bis auf Weiteres vom Tisch. Sie ist übrigens auch nicht die Auffang-Massnahme, wenn es für 59 nicht reicht.
Der 59er ist nicht daran gescheitert, dass es nicht gereicht hat, sondern dass aus dem Verlaufsgutachten nicht schlüssig hervorging, ob es eine geeignete Therapie gibt. Die eventualiter beantragte Verwahrung ist daher m. E. entgegen Deiner Einschätzung nicht vom Tisch. Hat in dieser Konstellation im Übrigen nichts mit Auffangmassnahme zu tun.
Ad kj: Ich bin nochmals in mich gegangen. Falls nur der Beschuldigte Berufung gegen die erstinstanzliche Anordnung einer Massnahme nach Art. 59 StGB eingereicht hatte (wonach es aussieht, auch wenn es im BGer-Entscheid nicht explizit steht), dürfte die Anordnung einer Verwahrung wohl tatsächlich vom Tisch sein. Auch wenn es etwas widersinnig erscheint, wenn man nachträglich zum Schluss gelangt, dass trotz schwerer Störung und gegebener Gefährlichkeit infolge fehlender geeigneter therapeutischer Massnahme keine Massnahme nach Art. 59 StGB angeordnet werden könne, womit eine geradezu klassische Ausgangslage für eine Verwahrung vorliegen würde; die erforderliche Anlasstat liegt vor. Einziger Stolperstein könnte noch sein, dass gemäss BGer das Verbot der reformatio in peius nicht spielt, wenn der Berufungsinstanz neue Tatsachen bekannt werden, die der Vorinstanz noch nicht bekannt waren. Ist ein neues Gutachten mit einer neuen Beurteilung solch eine neue Tatsache?