Ungenügende Verteidigung im Zwillingsmord von Horgen

Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hat das Urteil des Geschworenengerichts im Fall des “Zwillingsmords von Horgen” (s. meine früheren Beiträge hier und hier) kassiert (KG ZH, AC110010 vom 01.06.2012). Der Fall muss damit erstinstanzlich neu verhandelt werden.

Zu prüfen war unter dem Aspekt der ungenügenden Verteidigung,

ob sich der Vorinstanz aus damaliger Sicht – d.h. insbesondere auch vor einer entsprechenden Stellungnahme der Verteidigerin – die Verteidigung dermassen ungenügend präsentierte, dass die Vorinstanz hätte einschreiten müssen (E. 1.4).

Das Kassationsgericht musste diese Frage bejahen. Aus den Erwägungen:

Stellt ein Verteidiger einen (rechtlich) unsinnigen Antrag, wirft das zumindest die Frage auf, ob er die notwendigen Kenntnisse für die Führung einer Strafverteidigung hat, und ruft (zumindest im Fall einer notwendigen Verteidigung) nach Rückfragen (E. 5.4).

Allein die (anerkanntermassen) “unsinnigen Anträge” der damaligen Verteidigerin hätten freilich nicht gereicht, um die richterliche Fürsorgepflicht als verletzt zu qualifizieren. Entscheidend war, dass die Verteidigerin sich zu massgeblichen Punkten überhaupt nicht äusserte:

Wenn auch das Plädoyer der amtlichen Verteidigerin vor Vorinstanz bezüglich des Hauptantrages auf Freispruch durchaus engagiert, intensiv und sorgfältig erscheint und in diesem Bereich auch vom neuen Verteidiger nicht beanstandet wird, vermochte die Verteidigungsleistung im Bereich des (notwendigen) Eventualstandpunkts für den Fall eines Schuldspruchs die Anforderungen an eine genügende Verteidigung der Beschwerdeführerin nicht zu erfüllen. Im Gegensatz zur vorinstanzlichen Vernehmlassung (…) entband der Antrag auf Freispruch im Hauptstandpunkt die Verteidigung nicht davon, sich im Eventualstandpunkt zur rechtlichen Würdigung bei einem Schuldspruch und damit zum Tatbestand des Mordes wie auch des Totschlages zu äussern (vgl. vorstehend Erw. 5.4.a). Das tat die damalige amtliche Verteidigerin aber nicht. Einerseits schien sie nicht in der Lage, neben ihrem vorbereiteten Plädoyer auf die Ausführungen des Staatsanwalts zu reagieren (…). Eine solche Reaktion hätte sich aber schon anbetrachts der divergierenden rechtlichen Subsumtionen im Fall eines Schuldspruchs (Mord oder Totschlag), der staatsanwaltschaftlichen Ausführungen dazu – besondere Skrupellosigkeit bezüglich Mord, fehlende Entschuldbarkeit der Gemütsbewegung bzw. seelischen Belastung bezüglich Totschlag – aufgedrängt. Die damalige amtliche Verteidigerin unterliess indes insbesondere jegliche Begründung dafür, dass und weshalb die heftige Gemütsbewegung oder die grosse seelische Belastung, welche sie für die Beschwerdeführerin geltend machte, im Sinne von Art. 113 StGB entschuldbar gewesen wäre (…). Andererseits genügte zur Strafzumessung (auch insoweit im Gegensatz zur vorinstanzlichen Vernehmlassung […]) die blosse Verweisung auf die tatsächlichen Ausführungen zur Qualifikation als Totschlag, d.h. auf die Schilderung der tatsächlichen Situation der Beschwerdeführerin und ihr Leiden seit dem Tod ihrer ersten Tochter im Jahre 1999, nicht zur Begründung des Antrages einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren (auch wenn im Gegensatz zur Darstellung in der Beschwerde […] dabei doch auf eine persönliche Isolation und gesundheitliche Probleme der Beschwerdeführerin hingewiesen wurde […]). Es ist in keiner Weise verständlich, wie die damalige amtliche Verteidigerin zu einem Strafmass von 7 Jahren gelangte und weshalb das Gericht eine solche Strafe aussprechen sollte. Die Strafzumessung richtet sich nach dem Verschulden des Täters, wobei das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse sowie die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters zu berücksichtigen sind (Art. 47 Abs. 1 StGB). Mit Ausnahme der Schilderung der persönlichen Verhältnisse (bei den Ausführungen zum Totschlag) befasste sich die damalige Verteidigerin mit keinerlei weiteren Strafzumessungsgründen. Die Vorinstanz stellte diesen Mangel fest. Der Präsident forderte die Verteidigerin zumindest auf, zum Hauptstrafantrag auf lebenslängliche Freiheitsstrafe Stellung zu nehmen. Die Verteidigerin erklärte indes explizit, dass sie auf eine Stellungnahme verzichte (GG Prot. S. 803). Indem die Vorinstanz diesen Verzicht (wie auch den Verzicht auf eine Duplik […]) akzeptierte und die Verteidigerin nicht noch einmal zu genügenden Ausführungen zur Strafzumessung und auch nicht zu Ausführungen zur rechtlichen Qualifikation (insbes. besondere Skrupellosigkeit bei Mord und Entschuldbarkeit bei Totschlag) anhielt oder, bei anhaltendem Ungenügen, nicht die Verhandlung abbrach und einen neuen Verteidiger bestellte, verletzte sie die richterliche Fürsorgepflicht (und zwar wegen der vorstehend geprüften Unterlassungen, nicht wegen der fehlenden Begründung des Antrages auf ambulante Behandlung […] und nicht wegen einzelner Argumentationen, welche die Vorinstanz als nicht nachvollziehbar oder als unzutreffend wertete […]). Das angefochtene Urteil muss aus diesem Grund aufgehoben werden, und die Sache ist zur Wiederholung der Hauptverhandlung bei genügender Verteidigung zurückzuweisen (E. 6.7).

Der Entscheid ist wohl richtig für ein Geschworenengerichtsverfahren. Ich bin aber nicht sicher, ob daraus etwas für das Verfahren unter der StPO gewonnen werden kann. Ein ungenügendes Plädoyer kann m.E. nicht zur Aufhebung führen. Die ungenügende Verteidigung findet in der Regel im Vorverfahren statt, und zwar oft genug und aus Sicht der Fürsorgepflichten praktisch immer folgenlos.