Unseren täglichen Grundsatzentscheid …
gibt uns heute das Bundesgericht mit einem Urteil zur Verwertbarkeit von Beweismitteln, die privat und rechtswidrig erhoben wurden (BGE 6B_385/2024 vom 30.09.2024, Publikation in der AS vorgesehen). Zu entscheiden war die Frage, ob die Hypothese der rechtmässigen staatlichen Erlangbarkeit illegaler privater Beweise nach einem abstrakten oder einem konkreten Massstab zu bilden sei.
Das Bundesgericht gibt sich verwertungsfreundlich und entscheidet sich für einen abstrakten Massstab:
2.6.2.4. Im Rahmen der Hypothese der rechtmässigen staatlichen Erlangbarkeit illegaler privater Beweise muss nach dem Ausgeführten ein abstrakter Massstab Anwendung finden. Die Rechtsprechung ist zu bestätigen, wonach in die Hypothesenbildung nur solche gesetzlichen Erfordernisse einzubeziehen sind, die sich abstrakt anwenden lassen und keine Würdigung konkreter Umstände der Beweiserlangung erfordern. Zu prüfen ist demzufolge stets, ob der private Beweis im zu beurteilenden Fall aufgrund der abstrakten Gesetzeslage hätte beschafft werden können, d.h. ob er vom gesetzlich vorgesehenen Beweisdispositiv umfasst und von keinen Einschränkungen (wie etwa Beschlagnahmeverboten nach Art. 264 StPO oder dem Erfordernis der Katalogtat nach Art. 269 Abs. 2 StPO) betroffen ist. Das Vorliegen eines Tatverdachts sowie Verhältnismässigkeitsgesichtspunkte, die eine Würdigung der konkreten Umstände der Beweiserlangung im Einzelfall bedingen, sind hingegen nicht zu beurteilen.
2.6.3. Die Vorinstanz verletzt bei dieser Rechtslage kein Bundesrecht, wenn sie zum Schluss gelangt, die Strafbehörden hätten die Videoaufnahmen des Nachbargrundstücks und der Tankstelle hypothetisch rechtmässig erlangen können. Die Beschwerdeführer stellen zu Recht nicht in Abrede, dass die Strafbehörden entsprechende Videoaufnahmen an den besagten allgemein zugänglichen Orten hätten anfertigen können, wenn sie einen Tatverdacht gehabt hätten (vgl. Art. 282 Abs. 1 StPO). Ob im Zeitpunkt der Erstellung der Videoaufnahmen ein Tatverdacht bestanden hat bzw. – wie das die Vorinstanz darlegt – Umstände gegeben waren, aufgrund derer ein Tatverdacht hätte bestehen können, ist entgegen den Beschwerdeführern nicht massgebend. Ihre Kritik ist unbegründet.
Das Bundesgericht stützt sich weitgehend auf die Dissertation von Prof. Gunhild Godenzi (Private Beweisbeschaffung im Strafprozess, 2008, S. 315 ff.). Ich bin dennoch nicht ganz sicher, ob sie sich diesem Urteil nach geltendem Recht anschliessen würde.
Das Bundesgericht erwähnt m Übrigen auch die insbesondere von Wohlers thematisierte Gefahr ausufernder anlassloser privater Überwachung, erklärt dazu aber, das sei keine Thematik des Strafprozess-, sondern des Datenschutzrechts (E. 2.6.2.3). Hoppla!
Bei schweren Straftaten gibt es demnach praktisch kein Verwertungsverbot mehr für private Beweismittel. Hurra!
Endlich kann ich meine Nachbarn präventiv belauschen, filmen, bespitzeln und hacken, meine Kleidung mit versteckten Mikrofonen und Kameras bestücken, im Auto Dashcams in alle Richtungen installieren, usw.
Schliesslich sammle ich bloss in nobler Absicht systematisch Beweise, ob einer seine Alte vergewaltigt, Kinder prügelt, Drogen anbaut/handelt, verbotene Pornos guckt, Leichen(teile) verbuddelt und ähnlichen sinistren Tätigkeiten nachgeht.
Es lebe das Denunziantentum! Den Täter haben wir, die Tat wird sich von selbst finden …
Ergänzend die nicht überspitzt formulierte Meinung:
Greift die Überwachung durch Private in Grundrechte ein, z.B. den Schutz der Privatsphäre (beinhaltet auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und damit z.B. das Recht auf das eigene Bild; Art. 13 Abs. 2 BV, Art. 8 Ziffer 1 EMRK), dann bedarf die Grundrechtseinschränkung u.a. einer gesetzlichen Grundlage, schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein (d.h. in einem formellen Gesetz), der Kerngehalt des Grundrechts bleibt unantastbar (Art. 36 Abs. 1 und Abs. 4 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK; vgl. https://bger.li/138-II-346, E.8.2).
Der hier diskutierte BGE stellt aber fest, dass die StPO sich “nicht ausdrücklich zum Umgang mit von Privatpersonen gesammelten Beweismitteln” äussere, die Rechtsprechung aber deren Verwertbarkeit bejahe, selbst von rechtswidrig erlangten privaten Beweisen, wenn sie zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich seien (E.2.3).
Also fehlt in diesem Bereich die ausdrückliche gesetzliche Grundlage (in der StPO) und zudem muss die grundrechtsbeschränkende Norm hinreichend klar und bestimmt sein (Bestimmtheitsgebot). M.E. kann folglich Richterrecht die fehlende gesetzliche Grundlage nicht ersetzen (Legalitätsprinzip, Art. 5 Abs. 1 BV), wenn es sich um einen (schwerwiegenden) Grundrechtseingriff handelt.
Der BGE diskutiert die verfassungsrechtlich (Art. 36 Abs. 1 BV) geforderte gesetzliche Grundlage (des Grundrechtseingriffs durch Private) gar nicht, sondern ersetzt sie durch das öffentliche Interesse der Strafverfolgung schwerer Straftaten bzw. Art. 141 Abs. 2 StPO (obwohl diese Norm nicht die private Beweisbeschaffung regelt, wie das Bundesgericht sinngemäss selbst sagt, siehe oben).
Die Schrankennorm (Art. 36 BV) hat Verfassungsrang. Fehlt nur eine der Voraussetzungen (Art. 36 Abs. 1-4 BV; hier die gesetzliche Grundlage, Abs. 1), ist der Grundrechtseingriff verfassungswidrig. Somit muss doch stets geprüft werden, ob diese verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind (hier die hinreichende gesetzliche Grundlage).
Deshalb ist fraglich, ob die abstrakte Beurteilungsweise zulässig ist, weil dabei nicht konkret geprüft wird, ob der für eine staatliche Beweiserlangung erforderliche Tatverdacht sowie allfällige Verhältnismässigkeitsgesichtspunkte vorliegen, um die hypothetisch rechtmässige Erlangbarkeit rechtswidriger privater Beweise durch die Strafbehörden zu bejahen (E.2.6.2.1).
Anders ausgedrückt: Die abstrakte Beurteilungsweise kann die von Art. 36 Abs. 1 BV vorgeschriebene gesetzliche Grundlage (sowie die weiteren kumulativen Voraussetzungen, z.B. die Verhältnismässigkeit, Abs. 3) nicht ersetzen.
Und die Erwägung, “erfolgt der Zugriff auf einen privaten Beweis durch die Strafbehörden prozessrechtskonform, liegt ein staatliches Fehlverhalten folglich selbst dann nicht vor, wenn es sich um ein illegales privates Beweismittel handelt” (E.2.6.2.2), bejaht m.E. generell die Verwertbarkeit privater Beweise bei schweren Straftaten. Beim Verdacht schwerer Straftaten und privater Beweisbeschaffung wird damit das Grundrecht auf Privatspähre inhaltsleer, kann gar nicht mehr ausgeübt werden. Verletzt dies den Kerngehalt und ist daher verfassungswidrig?
Somit ist die “Gefahr ausufernder (anlassloser) Überwachung durch Private” stets im Sinne von Art. 36 BV zu prüfen, wenn sie private Beweise hervorbringt, die strafprozessual verwertet werden sollen, was dem Datenschutzrecht vorgeht. Damit ist dies entgegen des BGE (E.2.6.2.3) klar eine Thematik des Strafprozessrechts.