Unter Kosten- und Erniedrigungsfolgen
Ich muss heute einem Klienten, der seit 35 Jahren verwahrt ist, einen Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts weiterleiten, in dem er folgenden Satz lesen wird:
Nicht die geeigneten Institutionen fehlen. Vielmehr fehlt dem Beschwerdeführer die “Eignung”, in solche Institutionen eintreten zu können.
Eine Einrichtung ist für eine Person entweder geeignet oder nicht geeignet. Wie kann einer Person die Eignung fehlen, in eine für sie geeignete Einrichtung einzutreten?
Sehr, sehr sehr grosses Huiuiui, wenn ich das mal vorsichtig sagen darf.
Dieser Satz hört sich « sehr verachtend » an. Trotzdem möchte ich zuerst das ganze Urteil lesen, um das abschliessend für mich beurteilen zu können..
Sie werden uns sicher informieren, sobald es online sein wird.
Nelson Mandela Rules, EGMR ?
Eine völlig missglückte und dazu noch unnötig polemische Begründung. Wenn die Person sich nicht eignet, dann sind es natürlich auch keine geeigneten Institutionen. Von der Logik her ist damit die Behauptung im ersten Satz schlicht falsch. Mal abgesehen von der Formulierung darf man aber natürlich schon die Frage stellen, ob denn der Staat für jede Person eine geeignete Institution schaffen muss? Das Bundesgericht scheint diese Frage hier im Ergebnis zu verneinen. Die Überschrift “Erniedrigungsfolge” klingt dann für mich schon etwas zu fest nach Opferrolle. Oder worin genau besteht die Erniedrigungsfolge, wenn festgestellt wird, dass sich eine Person für keine der bestehenden Institutionen eignet?
Ein bisschen mehr Kontext wäre wünschenswert…
@HP Seipp: Für das was ich sagen wollte, war der Kontext genügend. Der Entscheid wird aber demnächst publiziert.
Auch Richter sind Menschen (tatsächlich!) und ohne den gesamten Sachverhalt und insbesondere die Verfahrensgeschichte zu kennen, würde ich mir nicht anmassen, den vorliegenden Satz überhaupt zu bewerten. Einem meiner Kunden hat das BGer bereits querulatorische Züge attestiert. Zu Recht…
@ pk. Das sehe ich auch so. Das bg will wohl bloss sagen, dass selbst spezialisierte institutionen beim betreffenden klienten an ihre grenzen stossen und dass das nicht den institutionen angelastet werden kann. Es ist wohl etwas salopp formuliert, vielleicht allzu salopp. Um das einzuschätzen, fehlen mir aber hintergrundinfos. Denn manchmal kommt es aus dem gericht hinaus, wie man hineingerufen hat. Wie hineingerufen wurde, weiss ich aber auch nicht.
@S. Alopp: Wahrscheinlich habe ich ungehörig in das Gericht hineingerufen und damit dieses Zitat provoziert, ja produziert. Ich setze mich übrigens schon lange dafür ein, dass die Beschwerdeschriften mit den Entscheiden zusammen wenigstens online publiziert werden. Dann könnten solche Spekulationen unterbleiben oder begründet werden. Im vorliegenden Fall ist das Zitat aber einfach in sich falsch. Es hätte wenn schon die Gutheissung der Beschwerde begründen können, nicht aber die Abweisung.
@pk: i.C. hatte der Beschwerdeführer in 35 Jahren Verwahrung keine querulatorischen Züge entwickelt. Seine Führungsberichte sind tadellos. Aber egal, es gibt keine Verfahrensgeschichte, die einen solchen Satz rechtfertigen könnte.
“Aber egal, es gibt keine Verfahrensgeschichte, die einen solchen Satz rechtfertigen könnte.” – 100% zutreffend!
@kj: ich erinnere mich nicht, auf Ihren Fall bezogen von querulatorschem Verhalten gesprochen zu haben, aber sei’s drum. Dafür ein Gedanke: vielleicht wollte der Wald ja Ihnen selbst und nicht etwa Ihrem sich tadellos führenden Klienten abschliessend in etwas prägnanterer Form klarmachen, was Sache ist?
@pk: wollen Sie mir – natürlich anonym – eine persönliche Botschaft übermitteln? Glauben Sie ernsthaft, ein Gericht entscheidet gegen den Anwalt statt gegen den Klienten?
@ kj bezüglich ” “Ich setze mich übrigens schon lange dafür ein, dass die Beschwerdeschriften mit den Entscheiden zusammen wenigstens online publiziert werden”.
Geehrter Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen dafür und denke es würde ihrem System gut stehen. Es ist unheimlich nervig nicht zu sehen was überhaupt tatsächlich vorgetragen wurde. So kann man ja auch mal schnell “eine ganze Rüge” vergessen zu beurteilen.
Ich unserem Land sind die Urteile auch wenig ergiebig, jedoch kann man sich die Parteienvorträge kostenlos zustellen lassen. Nur in Ausnahmefällen (wie zbs. der Jugendschutz usw) wird es verweigert.
Schlimm finde ich in ihrem Land das es sogar Verwaltungsentscheidungen gibt ( FINMA) welche gerichtlich verschlossen werden, respektive unter Strafandrohung es verboten wird diese Entscheide zu veröffentlichen, oder aber dem Betroffenen in Druckertinte zugestellt werden welche sich nach kurzer Zeit auflöst, oder aber die Eröffnung nur in einer Gesandtschaft der Schweizer Eidgenossenschaft stattfindet soll und man sich dann weigert den Schriftsatz zu übergeben, bzw. den Schriftsatz nur mündlich vorträgt und dann versucht eine Unterschrift zu bekommen “Eröffnung am XY.. XX)…. Solch Mist ist in der letzten Zeit viel vorgekommen und führte bei mir zu Kopfschütteln ob ihr dort noch alle Tassen im Schrank habt… führte auch zu Wechseln des Gerichtsstands Schweiz nach Singapur, oder Hong Kong oder was auch immer mit Leistungsfähigen Gerichten…
Auf
https://csvictims.com/news/
können Sie sich über gewisse Verläufe informieren welche nun in Ostasien beurteilt werden und ein schräges Licht auf die Justiz in CH und den Bankenplatz Schweiz bringen
Der Verein entscheidsuche.ch plant eine Upload-Funktion, die es RA erlauben würde, Beschwerdeschriften (und andere Dokumente) in geeigneter Form hochzuladen und so öffentlich zugänglich zu machen.
Das (heute publizierte) Urteil überzeugt.
Das fragliche Urteil wurde veröffentlicht. Der gesamte fragliche Absatz:
“1.4.5. Unbegründet ist der Vorwurf, das angefochtene Urteil basiere ganz offensichtlich nicht auf rechtlichen Gründen, sondern auf dem Fehlen einer geeigneten Einrichtung; das ändere aber nichts an der an sich zugestandenen Notwendigkeit von Vollzugslockerungen. Wie dargelegt, wurden Vollzugslockerungen nach Möglichkeit intramural gewährt, und wie ausgeführt, sind engmaschige Überwachung und offenes Setting realiter nicht konzipierbar. Tatsächlich bestehen offene und halboffene Institutionen, die begriffsimmanent der Erprobung in Freiheit dienen und damit den Übergang des Insassen in die Freiheit vorbereiten bzw. die weitergehende strukturierte Konzepte anbieten, da oftmals kein sozialer Empfangsraum existiert und Insassen in der Freiheit überfordert wären. Nicht die geeigneten Institutionen fehlen. Vielmehr fehlt dem Beschwerdeführer die “Eignung”, in solche Institutionen eintreten zu können.” (6B_168/2021, Urteil vom 21. April 2021).
Ich sehe persönlich keine Erniedrigung darin, dass mitgeteilt wird, dass der Beschwerdeführer mit seiner ausgewiesenen Rückfallgefahr (“Der Gutachter schätze aktuell das Risiko für Tötungsdelikte als moderat bis deutlich ein. Eine Entlassung empfehle er mit Sicherheit nicht”) die Eignung für eine offene oder halboffene Einrichtung nicht mitbringt. Das BGer bringt m.E. zu Recht ein, dass durch den Beschwerdeführer faktisch verlangt wird, “dass extramural verwahrungsanaloge Strukturen aufgebaut und unterhalten werden müssten, um den Beschwerdeführer verantwortbar bei gleichzeitig zu gewährleistendem Schutz Dritter bedingt entlassen zu können.”, (E.1.4.1) was m.E. zu Recht nicht in Frage kommt.
@Theles und SiGn: Danke Ihnen beiden. Dann habe ich das Zitat falsch verstanden und alles ist – auch nach 35 Jahren Verwahrung – gut. Hier zur allgemeinen Problematik der Verwahrung ein Input von aussen.
Ich würde nicht behaupten, dass alles gut ist. Die Verwahrung eines Menschen ist zu keinem Moment etwas, was auf die leichte Schulter genommen werden sollte. Von dem her verstehe ich Ihre Meinung, dass die Formulierung des Bundesgerichts nicht sehr taktvoll gewählt wurde.
In Erwägung 1.5 formuliert das Bundesgericht die “Eignung” meines Erachtens in einer sachlicheren bzw. taktvollerer Weise:
“Zusammengefasst kann angesichts der rechtserheblichen Tatsachen der schlechten Legalprognose und intrinsischen Unfähigkeit für ein offenes Setting oder ein Leben in Halbfreiheit oder Freiheit und – was entscheidend ist – der in der negativen Legalprognose liegenden Unfähigkeit, deliktfrei zu leben, nicht mit abstrakten Hinweisen auf Kontrollmöglichkeiten vorgetragen werden, der Grundsatz der Verhältnismässigkeit alleine gebiete es, dass der Beschwerdeführer bedingt in die Freiheit zu entlassen sei..”
Persönlich sehe ich nicht wirklich, wie der von Ihnen geforderte “offenen Vollzug mit engmaschiger Überwachung” (E.1.4.3) bei einer Person, bei welcher aktuell das Risiko für Tötungsdelikte als moderat bis deutlich angesehen wird, realisierbar sein könnte.
@SiGN: Eines der Probleme ist halt, dass sich heutzutage kein Gutachter mehr findet, der weniger als ein moderates Risiko attestiert. Auch schwierig: mein Mandant hat gemäss Gutachten ein Suchtproblem (Alkohol), obwohl er zuletzt vor 35 Jahren Alkohol konsumiert hat. Das ist deshalb wichtig, weil er das Delikt unter Alkoholeinfluss begangen hatte.
@kj: Bezüglich Gutachter/Rückfallrisiko kenne ich mich eindeutig zu wenig aus, aber ich glaube Ihnen gerne, dass es heutzutage immer schwieriger wird, überhaupt eine Entlassung aus der Verwahrung zu erwirken. Danke für den Link zu dem informativen Artikel.
Die Entscheidbegründung abgesehen: Dass in solchen Fällen nicht einmal die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt wird finde ich unglaublich. Aber: die Beschwerde ist ja schon geschrieben, also was solls.