Unverhältnismässige Entsiegelung
Das Bundesgericht kassiert zwei Entsiegelungsentscheide und erachtet es als unverhältnismässig, sämtliche Datenträger vollumfänglich entsiegeln zu lassen (BGer 7B_211/2023 und BGer 7B_213/2023, beide vom 07.05.2024).
Dabei spielt es offenbar auch gar keine Rolle (mehr?), ob man überhaupt Geheimnisinteressen anruft (“höchstpersönliche private Gespräch oder Aufnahmen” wurden nie geltend gemacht). Im vorliegenden Fall ging es um Ermittlungen im Zusammenhang mit falschen Angaben zum gesundheitlichen Zustand des Beschwerdeführers. Die Staatanwaltschaft machte sinngemäss geltend, es sei grundsätzlich alles geeignet, was auf den Datenträger gespeichert war. Das Bundesgericht scheint nicht zu widersprechen, stützt sich aber auf die Verhältnismässigkeit:
Der Beschwerdeführer hält die vollumfängliche Entsiegelung seiner Datenträger zu Recht für unverhältnismässig: Der Vorinstanz ist zwar zuzustimmen, dass angesichts des Zusammenlebens und der familiären Beziehung von Beschuldigtem und Beschwerdeführer untersuchungsrelevante Daten auf den sichergestellten Datenträgern zu vermuten sind, und dass die Schwere der dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikte die Entsiegelung in grundsätzlicher Hinsicht rechtfertigt, zumal der Beschwerdeführer weder im Entsiegelungsverfahren noch im Verfahren vor Bundesgericht dargelegt hat, dass sich unter den sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenständen höchstpersönliche private Gespräche oder Aufnahmen befänden, an denen ein besonderes überwiegendes Geheimnisschutzinteresse bestünde. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass alle auf den sichergestellten Datenträgern befindlichen Daten für das Strafverfahren gegen den Beschuldigten relevant sind. Soweit die Vorinstanz die Datenträger des Beschwerdeführers vollumfänglich entsiegeln möchte, kann ihr deshalb nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz hätte die Entsiegelung der Datenträger des nicht beschuldigten Beschwerdeführers gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO einschränken müssen (etwa auf Fotos, Videos und Korrespondenz mit dem Beschuldigten; vgl. BGE 141 IV 77 E. 4.3 und E. 5.5 ff.). Die umfassende Entsiegelung hält vor Bundesrecht nicht stand (E. 4.3, Hervorhebungen durch mich).
Very strange.
Möglicherweise spielte dieser Umstand eine Rolle:
“4.1. […] Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte *nicht* beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO).”
“4.3. […] Die Vorinstanz hätte die Entsiegelung der Datenträger des *nicht* beschuldigten Beschwerdeführers gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO einschränken müssen (etwa auf Fotos, Videos und Korrespondenz mit dem Beschuldigten […]
(Hervorhebung d.V.)
Möglicherweise spielte dieser Umstand eine Rolle:
“4.1. […] Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte *nicht* beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO).”
“4.3. […] Die Vorinstanz hätte die Entsiegelung der Datenträger des *nicht* beschuldigten Beschwerdeführers gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO einschränken müssen (etwa auf Fotos, Videos und Korrespondenz mit dem Beschuldigten […]
(Hervorhebung d.V.)
@MH: Danke dafür, das wird in der Tat eine Rolle gespielt haben. Und ich will den Entscheid ja auch nicht kritisieren. Es ist einfach schwierig, eine Linie zu erkennen.
Was ist das ? Praxisänderung?
Ich verstehe das Urteil eher so, dass eine _umfassende_ Entsieglung vor Bundesgericht nicht standhält. Die Staatsanwaltschaft hätte den Antrag umformulieren können in “alle Daten ‘die mit dem Fall zu tun haben könnten’“, anstatt “alle Daten“…. War die bundesgerichtliche Rechtsprechung diesbezüglich jemals anders? Ich denke die Staatsanwaltschaft hat einfach den Antrag “falsch” (bzw. abgekürzt) gestellt, aber in Ergebnis wäre es gleich gekommen.
Ich denke die Geheimnisinteressen spielen vorwiegend im Zusammenhang mit der Angemessenheit bzw. Verhältnismässigkeit i.e.S. eine Rolle. Hier scheint das Bundesgericht die Geeignetheit bzw. den Deliktskonnex und in der Folge die Verhältnismässigkeit i.w.S. zu verneinen.
Vgl. auch die allgemeinen Ausführungen in E. 4.1: “Grundsätzlich ist ein solcher Deliktskonnex nicht für jeden Gegenstand bzw. jede Aufzeichnung einzeln, sondern gesamthaft zu prüfen. Sind jedoch gewisse Gegenstände und Aufzeichnungen offensichtlich nicht untersuchungsrelevant, ist deren Entsiegelung dementsprechend in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht einzuschränken (vgl. BGE 142 IV 207 E. 7.1 ff.; 141 IV 77 E. 4.3 und E. 5.6; Urteil 1B_313/2022, 1B_314/2022, 1B_330/2022 vom 2. Februar 2023 E. 3.2; je mit Hinweisen).”
Implizit hat das Bundesgericht somit anerkannt, dass sich im vorliegenden Fall “offensichtlich nicht untersuchungsrelevante” Daten auf den Datenträgern befinden, weshalb es in sachlicher Hinsicht eine Einschränkung bedurft hätte. Wo die Grenze zwischen “offensichtlich nicht untersuchungsrelevanten” und bloss “nicht untersuchungsrelevanten” Daten verläuft, ist letztlich ein (nicht immer nachvollziehbarer) Ermessensentscheid.