Unverhältnismässige Härte im Fall Ritzmann
In der vergangenen Woche hat der “renommierte Rechtsexperte” Markus Mohler (alle nennen ihn so) einen Staatsanwalt öffentlich des Amtsmissbrauchs bezichtigt (so jedenfalls NZZonline). Ein möglicher Amtsmissbrauch liege in der unzimperlichen Vorgehensweise der Polizei anlässlich einer Hausdurchsuchung und der anschliessenden Einvernahme durch den Staatsanwalt. Zudem sei der Staatsanwalt befangen, weil er der SVP angehöre und einen Blocher-Wahlkampf unterstützt habe.
Ich kann mich den Äusserungen Mohlers ja in den meisten Punkten durchaus anschliessen. Was Mohler aber nicht sagt, ist beispielsweise, dass
- die Polizei die angeordneten Zwangsmassnahmen je nach Kanton völlig autonom durchführt und sich polizeitaktisch vom Staatsanwalt sicher nicht dreinreden lässt;
- die Polizei keine dem Einzelfall angepasste Einsatzdoktrin zu kennen scheint. Es werden alle Beschuldigten unabhängig vom Delikt, das man ihnen vorwirft, gleich und damit fast immer völlig übertrieben hart behandelt (begleitete Morgentoilette, Handschellen, Gefangenentransporter, etc.);
- die Rechtsprechung aufgrund der bekannten Fakten i.c. mit grosser Sicherheit nicht auf Befangenheit erkennen würde;
- dass Staatsanwälte oft (und objektiv meist sogar richtig) “beraten”, dies aber in der Regel – anders als i.c. – nicht protokollieren.
Der Fall Ritzmann zeigt m.E., wie wenig die Öffentlichkeit (inkl. manche renommierte Rechtsexperten) von den heute gängigen Polizeimethoden weiss oder wissen will. Vielleicht kommt es aber auch nur auf die Protagonisten an, wie viel man wissen will und ob man sich darüber empören will.
Im Gegensatz zum gerichtlichen Verfahren ist das Ermittlungsverfahren halt nicht öffentlich und darum können sich Staatsanwaltschaft/Polizei (noch) mehr Unkorrektes erlauben. Zudem wehren sich nach meiner Erfahrung viele Beschuldigte und/oder deren Strafverteidiger/innen zu wenig dagegen. Ein Umstand der wohl nicht besser wird, wenn die (Solothurner) Staatsanwaltschaft sich ihre Gegenspieler/innen aussuchen kann.
Polizeiliches Vorgehen:
Das taktische Vorgehen kann nicht bei jedem Fall komplett angepasst werden, denn es dient dem Schutz aller Beteiligten. Die Polizei weiss nicht, was die Beschuldigten anlässlich der Intervention denken oder wie sie handeln werden. Die Kripo vollzieht etliche Vorführungs- und HD-Befehle. Die meisten Korps müssen dazu Kripoangestellte zusammenziehen.
Nur wenige Polizeien verfügen über voll professionalisierte Personenfahndungen, die den Vollzug von solchen Zwangsmassnahmen hauptberuflich ausüben und somit aufgrund der Erfahrung Siutationen ganz anders einschätzen und vorgehen können.
Was würde wohl geschehen, wenn ein Polizist den Gemütszustand einer tatverdächtigen Person falsch beurteilt und diese auf dem WC, in der Verzweiflung über die aufgeflogene Tatbeteiligung, Medikamente schluckt oder sich die Pulsadern aufschneidet und stirbt?
Wer würde da die Verantwortung tragen? Sicher käme keiner auf die Idee zu sagen, die Polizei versuchte möglichst schonend vorzugehen und liess die Person alleine ergo trifft sie keine Schuld!
Klar, die Vorführung muss gemäss Art. 209 Abs. 1 möglichst schonend vollzogen werden. Unangenehm ist es im Endeffekt trotzdem. Vielleicht hilft der Vergleich mit dem Arztbesuch. Auf gewisse Untersuchungen könnte man im Alter gerne verzichten, aber der Mediziner muss sie trotzdem durchführen.
Und zum Schluss, es ist sicherlich zutreffend, dass die Polizei sich taktisch nicht dreinreden lässt. Aber sie hat sicher nichts dagegen, wenn der Staatsanwalt gleich persönlich bei der HD anwesend wäre. Nur haben die meisten Verfahrensleiter keine Lust oder vor allem keine Zeit den morgen für solche Aktion einzuplanen. Wie auch mit 100 Pendenzen…
Mag sein. Aber in Zürich werden nicht gefährliche und nicht fluchtgefährdete Untersuchungsgefangene auf Transporten und sogar in Spitalbetten grundsätzlich gefesselt. Verhältnismässigkeit und EGMR-Rechtsprechung hin oder her. Die Verfahrensleitung “beruft” sich dann auf Vorschriften der Polizei…
Dann würde ich gerne wissen, wer während des Einsatzes und aufgrund welcher Kriterien und in welchem Zeitrahmen entscheiden soll, wer nun gefährlich ist und wer nicht! Oder doch lieber gleich den Urbaniok bei Verhaftungen mitnehmen, der kann dann vor Ort eine FORTES-Analyse vornehmen und dann eine Empfehlung zur Fesselung abgeben.
Zum Thema Spitalbett erinnere ich an den Fall Dylan. Ich wage mal anzunehmen, dass die Mutter im Krankenhaus kein Schliesszeug trug, sonst wäre der Kleine wohl noch am Leben. http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/Kindsentfuehrerin-toetet-ihren-Sohn–Grossvater-festgenommen/story/18091801
Für die Fesselung gibt es verschiedene Gründe hier einige davon:
Ist die Person einmal gesichert vermindert sich das Risiko ernorm, z.B. anlässlich einer HD eine versteckte Waffe ergreifen oder durch Zerbrechen von SIM-Karten Beweise vernichten, Flucht durchs Badezimmerfenster, Suizid usw.
Gefangengentransporteure kennen die Arrestanten nicht persönlich, vielfach sehen sie die Personen das erste Mal beim Transport. Durch die Fesselung wird eine Flucht bereits im Ansatz möglichst verunmöglicht. Man stelle sich vor, bei jedem Transport der mehreren tausend Häftlinge müssten sie jeden einzeln beurteilen. In der Parxis würde der Transporteur dann
dem Einen sagen, ich glaube sie sind gefährlich und dem Zweiten sie sind glaube ich o.k.?
Und wenn schon Zürich erwähnt wird, dann kann auch noch gleich darauf Hingewiesen werden, dass die Bevölkerung des Polizeigesetz angenommen hat. Darin wird die Fesselung in § 16 geregelt. Gemäss Abs. 2 dürfen Personen beim Transport aus Sicherheitsgründen gefesselt werden. Das Vorgehen deckt sich also mit dem Volkswillen!
Man muss einfach mal einsehen, dass die Realität von der Theorie gewisse Komprisse fordert und das zum Wohle aller auch einmal die Rechte des einzelnen zurückstehen müssen. Für die Anwendung der Zwangsmassnahmen ist der minimale Konsens der Bevölkerung Art. 200 StPO.
StPO 200 verlangt eine Anpassung des Einsatzes an die konkreten Umstände des Einzelfalls. Verhältnismässig ist Gewaltanwendung halt immer nur, wenn sie notwendig, geeignet und verhältnismässig i.e.S. ist. Das geht nicht ohne sorgfältige Einzelfallbewertung. Mühsam, aber unverzichtbar.
Es ist naheliegend, dass es für die Polizei einfacher ist, eine Person immer maximal zu sichern bzw. einzuschränken – aber staatliches Handeln muss halt immer verhältnismässig sein, insbesondere staatliche Eingriffe. Es hat auch niemand gesagt, dass Polizeiarbeit einfach ist – umso erfreulicher, wenn sie trotzdem korrekt ausgeführt wird bzw. würde.
Im Übrigen zieht das Argument, die Beschuldigten schützen zu wollen, meines Erachtens nicht. Sind Beschuldigte erwachsen, müssen die Strafverfolgungsbehörden sie weder vor sich selbst schützen noch “beraten”, wie sie sich verteidigen sollen (was ja bisweilen auch zum Thema wird) – es ist lediglich eine korrekte Rechtsbelehrung nötig, wie sie gesetzlich vorgesehen ist.
Tja, und das mit dem Volkswillen ist so eine Sache. Ich wage mal zu behaupten, dass 9 von 10 Abstimmenden das Polizeigesetz nicht gelesen haben (ganz zu Schweigen vom Verstehen). Zudem sind wohl mindestens ebenso viele davon überzeugt, dass sowieso nur Leute verhaftet werden, die was ausgefressen und es darum verdient haben – dass sie selber mal (zu Unrecht) verhaftet werden könnten, kommt vielen scheinbar nicht in den Sinn.