Unverwertbare Einvernahme mangels “doppelter” Belehrung
Das Bundesgericht weist eine Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft TG ab, welche die Verwertbarkeit des entscheidenden Beweismittels (Geständnis) durchsetzen wollte (BGer 1B_56/2021 vom 05.10.2021). Die fragliche Einvernahme erwies sich wegen mangelhafter Belehrung als absolut unverwertbar, denn die Beschuldigte war vor ihrer Befragung durch die Staatsanwaltschaft nicht auf ihr spezifisches Aussageverweigerungsrecht zum Verhalten ihres mitbeschuldigten Ehemannes hingewiesen worden, den sie nicht belasten musste (keine “doppelte” Belehrung). Daran änderte auch nichts, dass sie bei der polizeilichen Befragung noch korrekt und damit doppelt belehrt worden war und dass die Strafverfolger das Geständnis nur in ihrem Verfahren, nicht aber im Verfahren gegen den Ehemann verwerten wollten. Das Obergericht TG entschied, dass das Einvernahmeprotokoll in Bezug auf die Aussagen zum Ehegatten durch Einschwärzen unkenntlich zu machen sei.
Zu entscheiden war mithin die Frage, ob die bundesgerichtliche Praxis zur Befragung von Auskunftspersonen (BGE 144 IV 281 E. 1.3) analog auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden war. Das Bundegericht bejaht und bestätigt das Urteil des Obergerichts TG.
Diese Praxis muss – sinngemäss – umso mehr auch für die Einvernahme von beschuldigten Personen gelten, zumal diese ein generelles Aussageverweigerungsrecht haben (vgl. oben, E. 3.1). Ein allfälliger Vorbehalt für Auskunftspersonen, wonach feststehen müsse, dass diese “später im Verfahren als Zeuge oder Zeugin einzuvernehmen sein” würden (BGE 144 IV 28 Regeste), greift bei Beschuldigten und in der vorliegenden Konstellation offensichtlich nicht, da die in der gleichen Sache mitbeschuldigte Beschwerdegegnerin zum Vornherein nicht als Zeugin befragt werden kann (Art. 162 StPO). Mögliche Zeugen und Zeuginnen sind an der zu untersuchenden Straftat definitionsgemäss völlig unbeteiligt (BGE 144 IV 28 E. 1.3.1 S. 31). Die Beschwerdegegnerin kam unbestrittenermassen schon anlässlich ihrer polizeilichen Befragung als beschuldigte Person in Frage. Andernfalls hätte sie denn auch von Gesetzes wegen als Auskunftsperson oder als Zeugin befragt werden müssen (Art. 179 Abs. 1 und Abs. 2 StPO; BGE 144 IV 28 E. 1.3.2 S. 33) [E. 4.3].
Zur Frage, ob die polizeiliche Belehrung in der früher durchgeführten Befragung reiche, äussert sich das Bundesgericht wie folgt:
Im Lichte der gesetzlichen Regelungen erweist sich das prozessuale Verhalten der kantonalen Strafverfolgungsbehörden in zweifacher Hinsicht als problematisch. Erstens erscheint es zumindest fragwürdig, ob die Beschwerdegegnerin, zumal als juristische Laiin, sich nach vier Monaten noch an die zutreffende “doppelte” Belehrung durch die Kantonspolizei erinnern konnte. Zweitens wirkt der Standpunkt der Generalstaatsanwaltschaft widersprüchlich: Einerseits vertritt sie die Auffassung, die (“doppelte”) Belehrung durch die Polizei sei bereits als ausreichend für das gesamte Verfahren anzusehen gewesen. Anderseits erklärt sie nicht nachvollziehbar, wieso die Staatsanwaltschaft dann trotzdem eine zweite Belehrung hat folgen lassen, diesmal aber eine unvollständige, nämlich ohne Hinweis auf das spezifische Aussageverweigerungsrecht zu den von der Staatsanwaltschaft gestellten Fragen betreffend den Ehemann der Beschuldigten. Das inkonsequente Verhalten der Staatsanwaltschaft war denn auch durchaus geeignet, bei der Beschuldigten den falschen Eindruck zu erwecken, dass ihr bei der staatsanwaltlichen Befragung nur noch das Selbstbelastungsprivileg zustehen würde (“nemo tenetur se ipsum accusare”), nicht aber das spezifische Aussageverweigerungsrecht betreffend den mitbeschuldigten Ehemann. Nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung und in Nachachtung eines wirksamen Rechtsschutzes der Betroffenen ist in solchen Konstellationen grundsätzlich “doppelt” zu belehren. Ein blosser Hinweis auf das allgemeine Aussageverweigerungsrecht (mit Selbstbelastungsprivileg) reichte im vorliegenden Fall nicht aus, was zu einem absoluten Beweisverwertungverbot der Aussagen der Beschwerdegegnerin zum Verhalten ihres Ehemannes während der staatsanwaltlichen Einvernahme führt (Art. 158 Abs. 2 i.V.m. Art. 177 Abs. 3 Satz 2 StPO; vgl. BGE 144 IV 28 E. 1.4 S. 35) [E. 5.2].
Da übt sich das Bundesgericht wieder in überspitztem Formalismus, den es besser an anderen Orten anwenden würde (Anklageprinzip). Der/die Beschuldigte hat ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht, d.h. zu 100%. Das kann man nicht mehr steigern. Daher ist die 2. Belehrung ein absoluter Leerlauf, schon von der Logik her.
@DR: Der Sachverhalt zeigt doch, dass es kein Leerlauf ist. Die Polizei belehrt richtig, die STA oft mangelhaft (und die Richter übrigens praktisch immer falsch)
Interessant ist, dass die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in einem bloss zwei Tage zuvor publizierten Urteil in der fehlenden Belehrung des Beschuldigten anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung keinen schwerwiegenden Verfahrensmangel erkannte, da der Beschuldigte bereits in vorangehenden Befragungen belehrt wurde (Urteil BGer 6B_466/2021 v. 13.10.2021 E. 3.1-3.4). Hier scheint die Abstimmung mit der öffentlich-rechtlichen Abteilung nicht geklappt zu haben.
Der Entscheid ist absurd. Es geht um eine Scheinehe! Und nun soll die Befragung absolut unverwertbar sein, weil die Beschuldigte vor ihrer Befragung nicht auf ihr spezifisches Aussageverweigerungsrecht zum Verhalten ihres mitbeschuldigten Ehemannes hingewiesen wurde? Ernsthaft?
Überdies regelt Art. 158 StGB, wie eine beschuldigte Person zu belehren ist. Weshalb einer beschuldigten Person nun Zeugnisverweigerungsrechte zustehen sollen, ist mir schlicht unerklärlich.
@G: Kann es sein, dass Sie den Entscheid und die Argumentation nicht verstanden haben?