Unverwertbare und nicht protokollierte Aussagen

Das Bundesgericht hebt ein Urteil des Obergerichts des Kantons Aargaus (versuchter Mord, 7.5 Jahre Zuchthaus) auf, weil die Beschwerdeführerin nicht auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht worden war (BGE 1P.399/2005 vom 08.05.2006):

Massgebend für den Schuldspruch waren die Einvernahmen der Beschwerdeführerin als Beschuldigte in der Zeitspanne vom 24. August bis und mit 12. September 2001. Während dieser Zeit befand sich die Beschwerdeführerin in Haft und war durch keinen Rechtsbeistand vertreten; ein solcher war zwar am 5. September 2001 ernannt worden, nahm aber erst an der Konfrontationseinvernahme vom 9. Oktober 2001 teil. Die Beschwerdeführerin kann sich daher auf Art. 31 Abs. 2 BV und die daraus abgeleitete Pflicht der Behörden zum Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht berufen. Den Protokollen ist kein entsprechender Vermerk zu entnehmen, obwohl die Beschwerdeführerin auf Art. 303 StGB hingewiesen worden ist. Seitens der Behörden wird nicht geltend gemacht, dass die Beschwerdeführerin auf ihr Schweigerecht aufmerksam gemacht worden wäre (wie dies heute § 62 Abs. 1 lit. b StPO in der Fassung vom 2. Juli 2002 vorschreibt). Schliesslich sind keine Indizien ersichtlich, dass sich die Beschwerdeführerin über ihr Schweigerecht im Klaren gewesen wäre. Indem die Beschwerdeführerin bei den angeführten entscheidwesentlichen Einvernahmen nicht auf ihr Aussageverweigerungsrecht hingewiesen wurde, ist Art. 31 Abs. 2 BV verletzt worden (E. 2.2).

Nicht beurteilt hat das Bundesgericht leider die Rüge, dass den förmlich protokollierten Einvernahmen mehrere stundenlange Vorgespräche vorangegangen sind, welche lediglich erwähnt, indes nicht protokolliert worden sind (Verletzung von Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff.1 EMRK:

Vor diesem Hintergrund erscheinen die ausgedehnten und nicht protokollierten Vorgespräche als problematisch. Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann angesichts der Begründetheit der Beschwerde hinsichtlich der Befragungen in der Zeitspanne vom 24. August bis und mit 12. September 2001 (oben E. 2.2) offen bleiben (E. 3.2).

Zumindest erstaunlich sind die vom Bundesgericht zitierten Äusserungen des Obergerichts in dessen Vernehmlassung:

Das Obergericht führt in der Vernehmlassung aus, dass solche Vorgespräche unumgänglich seien und dass im vorliegenden Fall keine Indizien auf eine unkorrekte Durchführung bzw. auf eine unzulässige Einflussnahme auf die förmlichen Befragungen hinweisen würden.

Beurteilt hat das Bundesgericht dann aber wieder die Frage der Verwertbarkeit der ohne Rechtsbelehrung gemachten Aussagen:

Das Bundesgericht hat allerdings entschieden, dass Aussagen, die in Unkenntnis des Schweigerechts gemacht worden sind, wegen des formellen Charakters der behördlichen Aufklärungspflicht grundsätzlich unverwertbar sind (BGE 130 I 126 E. 3.3 S. 132). Gründe, die eine Ausnahme vom Verwertungsverbot zulassen würden, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Das führt zur Unverwertbarkeit der Einvernahmen vom 24. August, 26. August, 31. August und 12. September 2001, soweit sich die Beschwerdeführerin darin selber belastete (E. 4).