Unvoreingenommene Richter?
Anlässlich einer Berufungsverhandlung hielt das Appellationsgericht BS fest, es erachte eine Freiheitsstrafe von 27 Monaten für schuldangemessen. Das Verfahren sei aber auszusetzen, um ein neues psychiatrisches Gutachten zu erstellen, welches sich zur Diagnose, zur Therapiefähigkeit, zum Rückfallrisiko und zur angezeigten Massnahme äussere. In der Folge beantragte der Beschuldigte den Ausstand der Berufungsrichter, blieb damit aber – erstaunlicherweise – ohne Erfolg (BGer 1B_199/2020 vom 07.09.2020). Er machte u.a. geltend, es seien noch gar nicht alle Strafzumessungsfaktoren bekannt gewesen, die im Rahmen von Art. 47 StGB zu beachten seien. Das Vorgehen des Gerichts verstosse gegen die StPO.
Das Bundesgericht sieht das anders. Dem Gutachtensauftrag könne entnommen werden, dass zwar die Frage gestellt wird, ob die diagnostizierte Störung von erheblichem Ausmass sei. Im Übrigen enthalte er jedoch “keine weiteren Fragen zur Schuldfähigkeit.” Auch kein (Befangenheits-)Problem sieht das Bundesgericht in der Vorwegnahme des Strafmasses unter Verletzung von Art. 342 StPO. Das sei keine jedenfalls keine schwere Verletzung von Richterpflichten:
Selbst wenn das Vorgehen der Beschwerdegegner den Vorgaben von Art. 342 StPO nicht entsprechen würde, änderte dies an der vorliegenden Beurteilung nichts. Sofern ein Ausstandsgrund aus materiellen oder prozessualen Rechtsfehlern abgeleitet wird, sind diese nur wesentlich, wenn sie besonders krass sind und wiederholt auftreten, sodass sie einer schweren Amtspflichtverletzung gleichkommen und sich einseitig zulasten einer der Prozessparteien auswirken; andernfalls begründen sie objektiv keinen Anschein der Befangenheit (vgl. BGE 141 IV 178 E. 3.2.3 S. 180; Urteil 1B_215/2019 vom 9. Dezember 2019 E. 3.4.1; je mit Hinweisen). Gegen beanstandete Verfahrenshandlungen sind ansonsten primär die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel auszuschöpfen (vgl. BGE 143 IV 69 E. 3.2 S. 75 mit Hinweisen). Von besonders krassen oder wiederholten Irrtümern im Sinne einer schweren Verletzung der Richterpflichten kann hier allerdings keine Rede sein. Dies gilt umso mehr, als die Beschwerdegegner ihr Vorgehen offen kommuniziert und ausgeführt haben, es liege grundsätzlich – bis auf die abgegrenzte Frage der Therapierbarkeit – ein spruchreifes Verfahren vor, weshalb auch bereits eine Sanktion ausgesprochen werden könne. Dass sie mit der Festlegung der Strafe bzw. zumindest mit deren Mitteilung möglicherweise besser zugewartet und das Strafmass erst nach Eingang des neuen Gutachtens, anlässlich der Fortsetzung der Hauptverhandlung, bekannt gegeben hätten, stellt jedenfalls keine schwere Amtspflichtverletzung dar (E. 4.2, Hervorhebungen durch mich).