Unzulässige Kognitionsbeschränkungen
Immer wieder beschränken Rechtsmittelinstanzen ihre eigene Kognition und verkennen dabei, dass die Berufung (und auch die Beschwerde) solche Beschränkungen grundsätzlich nicht kennt. Aus diesem Grund schickt das Bundesgericht erneut zwei Fälle zurück an ein kantonales Obergericht, das in dieser Frage – wahrscheinlich aus massiver Arbeitsüberlastung – besonders anfällig zu sein scheint.
Das Bundesgericht qualifiziert diese Bescheidenheit – zweimal mehr – als Gehörsverletzung (BGer 6B_497/2014 sowie 6B_521/2014 vom 06.03.2014):
[Die Vorinstanz] beschränkt [ihre Kognition] in unzulässiger Weise, wenn sie sich mit entscheidrelevanten Vorbringen des Beschwerdeführers nicht befasst (vgl. BGE 131 II 271 E. 11.7.1; Urteil 6B_72/2014 vom 27. November 2014 E. 3.4.2; je mit Hinweisen). Dadurch verweigert sie ihm das rechtliche Gehör.
Soweit sie trotz ihrer Feststellung, die Rüge sei verspätet, auf sie eintritt, setzt sie sich mit den Einwänden des Beschwerdeführers nicht genügend auseinander, wenn sie lediglich allgemein auf die nötige Interessenabwägung sowie die unterschiedlichen Meinungen in der Literatur verweist, ohne selbst ein Fazit für den konkreten Fall zu ziehen. Dass sie die Aussagen des Geschädigten insgesamt als glaubhaft einstuft, ist in Bezug auf deren Verwertbarkeit nicht relevant. Warum sie diese letztlich bejaht, ist ihren Erwägungen nicht zu entnehmen. Es bleibt unklar, ob sie die Befragung der Auskunftspersonen als korrekt durchgeführt und die Verwertbarkeit ihrer Aussagen deshalb als gegeben erachtet, oder ob sie der Meinung ist, ihre Aussagen seien trotz (allfälliger) Verfahrensmängel infolge einer entsprechenden Interessenabwägung verwertbar. Eine Überprüfung der vorinstanzlichen Rechtsanwendung ist unter diesen Umständen nicht möglich.
Die Frage, ob eine Rüge verspätet ist, hat an sich nichts mit der Kognition zu tun. Oder doch? Die Kognition kommt erst zum tragen, wenn die Rüge rechtzeitig erhoben wurde. Dann nämlich ist zu prüfen, ob die geltend gemachte Rechtsverletzung auf Willkür oder mit freier Kognition überprüft wird. Umfassende Kognition heisst doch nicht, dass das Gericht alles “von Amtes wegen” prüft. Ansonsten müsste man ja einfach sagen “erhebe Berufung” und den Rest kann dann die Rechtsmittelinstanz erledigen. Das macht das Bundesgericht trotz freier Kognition ja auch nicht. M.E. ist die Begründung des BGer daher nicht ganz korrekt – wenn auch im Resultat vertretbar.
Im Gegensatz zur Berufung nach StPO unterliegt die Beschwerde an das Bundesgericht gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG dem Rügeprinzip. Das Bundesgericht überprüft den angefochtenen Entscheid grundsätzlich nur auf explizit gerügte Rechtsverletzungen, dies aber mit weitgehend freier Kognition (in Rechtsfragen, vgl. Art. 95 ff. BGG). Solche Einschränkungen sind der Berufung fremd. Das Berufungsgericht hat bezüglich der angefochtenen Punkte (d.h. Dispositivziffern des erstinstanzlichen Urteils, nicht etwa Rügen nach BGG) von Grund auf ein neues Urteil zu fällen, welches an die Stelle des erstinstanzlichen Urteils tritt (vgl. Art. 408 StPO). Insofern ist das Berufungsverfahren (ganz anders als das bundesgerichtliche Verfahren) tatsächlich eine Art Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens. Dies entspricht aber gerade dem Prinzip der ‘double instance’, welche den neuen Prozessordnungen zu Grund liegt.
Das stimmt schon, aber nach Art. 385 Abs. 1 StPO ist das Rechtsmittel zu begründen bzw. zu substantiieren. Wird eine Rüge nicht erhoben oder nicht begründet, ist auf die Berufung insofern nicht einzutretend. Das hat aber nichts mit der Kognition zu tun.
@Kevin: Nein, Art. 385 Abs. 1 StPO umschreibt explizit nur die Anforderungen an die Begründung, für den Fall, dass das betreffende Rechtsmittel eine solche verlangt. Im Gegensatz zur Beschwerde (Art. 396 Abs. 1 StPO) und zur Revision (Art. 411 Abs. 1 StPO) verlangt das Gesetz bei der normalen Berufung gerade aber keine Begründung, sondern lediglich deren fristgerechte Anmeldung bzw. Erklärung (Art. 399 StPO), ausgenommen die Fälle nach Art. 398 Abs. 4 und 5 StPO bzw. das (ausnahmsweise) schriftliche Berufungsverfahren nach Art. 406 StPO.