Update 1: Kontrollstaat Solothurn
In der heutigen Ausgabe der Solothurner Lokalpresse findet sich jeweils ein Interview mit Herrn Regierungsrat Gomm zur Vorlage “Erhöhung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung” (s. meinen letzten Beitrag). Die kritischen Fragen stellt das Solothurner Tagblatt, das online zugänglich ist und aus dem ich hier zitiere:
Wir sind ganz klar der Auffassung, dass in einem freiheitlichen Staat auch Leute an öffentlichen Plätzen verkehren dürfen, die der Mehrheit vielleicht nicht genehm sind. Deshalb sind wir zweitens der Meinung, dass der Antrag der Justizkommission eindeutig über das Ziel hinausschiesst (Wegweisung einzelner Personen, schon nur wenn sich jemand belästigt fühlt, Anmerkung der Red.) und man von der Wegweisungskompetenz nur sehr zurückhaltend Gebrauch machen soll. Es ist wohl eher so: Der linke Polizeidirektor wurde von den liberalen Geistern in diesem Punkt im Stich gelassen.
Genau so ist es. Dass aber auch RR Gomm grundsätzlich hinter der Vorlage steht, zeigen die folgenden Zitate:
Nur als Beruhigungspille ist die Vorlage nicht gedacht, wenn sie das meinen sollten. Man muss tatsächlich davon ausgehen, dass heute mehr Gewalt im öffentlichen Raum stattfindet als vor 10 oder 15 Jahren […]. Und es wird zum Beispiel bei der Videoüberwachung ein Bereich geregelt, der bis heute auf kantonaler Ebene zu wenig geregelt war. Da werden jetzt klare Grenzen gesetzt.
Dazu ist folgendes zu sagen:
- Es ist schlicht und ergreifend nicht wahr, dass heute mehr Gewalt im öffentlichen Raum stattfindet als früher. Wenn schon müsste man dies belegen und nicht einfach davon ausgehen, es sei so.
- Natürlich werden der Videoüberwachung auch Grenzen gesetzt. Entscheidend ist doch aber die Tatsache, dass die Vorlage die legale staatliche Videoüberwachung erst ermöglicht. Herr RR Gomm sagt es ja freundlicherweise im selben Interview gleich selbst:
Als ich in Olten noch Gemeinderat war, wurde einfach so die Videoüberwachung des Strassenstrichs beschlossen. Ich habe schon damals kritisiert, dass dafür eine gesetzliche Grundlage fehlte und es als Regierungsrat dann als vordringliche
Aufgabe angesehen, hier Klarheit zu schaffen.
Das Beispiel Videoüberwachung zeigt wunderschön, wie Demokratie funktioniert, wenn die Amateur-Legislative der Profi-Exekutive derart krass unterlegen ist wie in den meisten Kantonen. Das führt dann zur modernen Auffassung der Gewaltentrennung:
- Schritt 1: Die Exekutive erfindet ein Problem und ergreift Massnahmen dagegen, und zwar völlig egal ob sie die entsprechenden Kompetenzen hat oder nicht. Sie kümmert sich nicht um ihre eigene Rechtsordnung, sondern konstruiert ein überwiegendes öffentliches (= mehrheitsfähiges) Interesse, das ihre Massnahmen rechtfertigt.
- Schritt 2: Die Legislative – wenn sie es überhaupt merkt – reagiert empört und greift “korrigierend” ein, indem sie die gesetzliche Grundlage schafft und die Massnahmen der Exekutive nachträglich legalisiert.
- Variante zu Schritt 2: Die Judikative – so sie denn angerufen wird – stellt fest, dass eine hinreichende gesetzliche Grundlage fehlt, worauf die Legislative bei Schritt 2 weitermacht. Die Judikative ist in diesem Prozess meistens nur überflüssiger Durchlauferhitzer, weil eine wirksame Verfassungsgerichtsbarkeit fehlt.
- Ergebnis: Die Volksmehrheit ist glücklich und bringt dieses Glück bei den nächsten Wahlen zum Ausdruck. Die Minderheit – sie kann 49% stark sein – bleibt mit samt ihren Rechten auf der Strecke. Moderne Demokratie halt.
Mit Ihrer Analyse treffen Sie ins Schwarze. Wenn das Volk resp. deren VertreterInnen eine Videoüberwachung oder andere Eingriffe in Grundrechte wünschen und die nötigen gesetzlichen Grundlagen schaffen, kann oft nur noch mit der fehlenden Geeignetheit (die Wirksamkeit von Videoüberwachung ist z.B. britschen Studien gemäss höchst zweifelhaft), der Erforderlichkeit oder der Verhältnismässigkeit im engeren Sinn argumentiert werden. Wer will aber diese Anforderungen an Grundrechtseingriffe durchsetzen? Das müssten wohl trotzdem die Gerichte sein. Dafür müssten aber die Bürgerinnen und Bürger diese Massnahmen erst vor Gericht bringen.