Update: BGE zur Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten

Wie versprochen komme ich hier zurück auf den Entscheid des Bundesgerichts 6B_170/2007 vom 09.10.2007 (s. meinen früheren Hinweis).Zu beurteilen war folgender Sachverhalt:

Anfangs Januar 2005 wurde gegen A. wegen Verdachts des Handels mit Kokain eine bewilligte Telefonüberwachung durchgeführt. Im Zuge dieser Ermittlungen wurden Telefongespräche zwischen A. und einer Person abgehört, welche sich “Y.” nannte. Aus diesen Gesprächen schlossen die Strafverfolgungsbehörden, dass “Y.” die Hauptlieferantin von A. war und die Drogenübergaben jeweils in Zürich stattfanden. Die Ermittlungen ergaben weiter, dass es sich bei “Y.” um die Beschwerdeführerin handeln musste. Am 16. Februar 2005 stieg die Beschwerdeführerin in Zürich zu A. ins Auto und verliess dieses kurz darauf wieder. Bei seiner anschliessenden Verhaftung trug A. 70 Gramm Kokain auf sich. Die Beschwerdeführerin begab sich nach der Begegnung mit A. gemeinsam mit einer Kollegin in deren Wohnung, wo beide ebenfalls verhaftet wurden. In den Räumlichkeiten stellte die Polizei 249 Gramm Kokain sicher. Die Beschwerdeführerin gestand ein, diese Drogen seien ihr zuzuordnen; ihre Kollegin habe damit nichts zu tun. In den nachfolgenden Einvernahmen bezeichnete A. die Beschwerdeführerin als seine Lieferantin “Y.” und erklärte, von dieser über einen längeren Zeitraum hinweg wöchentlich 50 Gramm Kokain bezogen zu haben. Nach der Konfrontation mit A. gab auch die Beschwerdeführerin zu, diesen mit einer erheblichen Menge Kokain beliefert zu haben.

Die Beschwerdeführerin qualifizierte diesen Sachverhalt teilweise als willkürlich, blieb damit aber erfolglos, mindestens in einem Punkt mit einer nicht leicht nachvollziehbaren Begründung:

Inwiefern schliesslich die vorinstanzliche Feststellung, wonach sie von der Polizei beim Einsteigen ins Auto von A. auch beobachtet worden wäre, wenn sie nicht observiert worden wäre, willkürlich sein sollte, wird von der Beschwerdeführerin nicht näher substantiiert und ist auch nicht ersichtlich (E. 3.3).

Im für das Bundesgericht danach verbindlichen Sachverhalt stellte sich dann aber die Frage der Fernwirkung nicht. Es klärte sie dennoch und begann mit der Frage des Zufallsfunds, denn auf Y. stiessen die Strafverfolger ja aufgrund einer Telefonüberwachung im Verfahren gegen A:

Es ist folglich von einem sog. personellen Zufallsfund im Sinne von Art. 9 Abs. 2 BÜPF auszugehen (…). Eine Auswertung der Erkenntnisse aus der Telefonüberwachung zu blossen Fahndungszwecken im Sinne von Art. 9 Abs. 4 BÜPF liegt nicht vor, denn die Beschwerdeführerin wurde nicht bzw. jedenfalls nicht primär zwecks Verhaftung verfolgt, sondern observiert, um sie des Drogenhandels zu überführen. Von Seiten der Untersuchungsbehörde wurde bei der Anklagekammer nie um eine Genehmigung im Sinne von Art. 9 Abs. 3 BÜPF ersucht. Aus dem Wortlaut der Art. 9 Abs. 2 und 3 BÜPF ergibt sich zudem, dass der Gesetzgeber ein nachträgliches Genehmigungsverfahren ausschliessen wollte. Im Ergebnis liegt damit die erforderliche Genehmigung bezüglich des die Beschwerdeführerin betreffenden Zufallsfundes nicht vor (E. 4.3, Hervorhebungen durch mich, der die entsprechende Passage nicht versteht).

Die Verwertbarkeit konnte in einem sochen Fall auch nicht über die Interessenabwägung erreicht werden,

wenn das Gesetz explizit von der Unverwertbarkeit der Beweismittel ausgeht. Dies ist vorliegend der Fall: Der Art. 9 Abs. 3 BÜPF bestimmt, dass die Informationen nicht verwendet werden dürfen und die betreffenden Dokumente und Datenträger umgehend vernichtet werden müssen […]. Folglich ist es vorliegend unzulässig, auch nur teilweise auf die Protokolle aus der Telefonüberwachung abzustellen (E. 4.4).

Nun gab es ja aber auch noch andere Beweismittel, womit sich die Frage stellte,

ob das Verwertungsverbot einzig für die rechtswidrig beschafften primären Beweismittel gilt, oder ob es sich auch auf alle weiteren Beweismittel erstreckt, welche gestützt auf die illegalen Primärbeweismittel erhoben wurden, […]. (E. 4.5)

Das Bundesgericht – wer hätte etwas anderes erwartet – löst auch diese Frage mit der strafprozessualen Megakeule der materiellen Wahrheit und schliesst sich Niklaus Schmid an:

So ist nach Schmid einzig von der Unverwertbarkeit auszugehen, “wo der ursprüngliche, ungültige Beweis Bestandteil sine qua non des mittelbar erlangten Beweises ist”.

Dieser Satz ist die eigentliche Botschaft aus Lausanne. Für die Praxis heisst das natürlich, dass es keine Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots gibt. Ich kann mir jedenfalls keinen praktischen Fall vorstellen, “wo der ursprüngliche, ungültige Beweis Bestandteil sine qua non des mittelbar erlangten Beweises ist.”

Im zu beurteilenden Fall hatte Y. ein Geständnis abgelegt (merke: Geständnis = materielle Wahrheit). Dieses aber kam nach dem oben dargestellten Sachverhalt unabhängig von der Telefonkontrolle zu Stande. Von “Bestandteil sine qua non” (Schmid) kann also keine Rede sein:

Die Beschwerdeführerin hat ein weitreichendes Geständnis abgelegt, ohne dass ihr gegenüber erwähnt worden wäre, sie werde aufgrund der Telefonkontrolle des Drogenhandels verdächtigt, und ohne dass ihr konkrete Gesprächsinhalte aus der Telefonüberwachung vorgehalten worden wären (…). Dieses Beweismittel, d.h. ihr Geständnis, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ohne die in Bezug auf die Beschwerdeführerin unrechtmässig erfolgte Telefonüberwachung erlangt worden. Wie die Vorinstanz zutreffend erörtert, kann es als sicher angesehen werden, dass sie von der Polizei beim Ein- und Aussteigen ins Auto von A. auch beobachtet worden wäre, wenn man damals einzig ihn wegen des aus der ordnungsgemäss bewilligten Telefonkontrolle stammenden Verdachts auf Drogenhandel observiert hätte. Dieser von der Polizei wahrgenommene Kontakt zwischen dem mutmasslichen Drogenhändler A. und der Beschwerdeführerin hätte aufgrund der konkreten Umstände zweifelsohne den Verdacht aufkommen lassen, sie sei in den Drogenhandel verwickelt. Folglich wäre die Polizei ihr höchstwahrscheinlich zwecks Verhaftung gefolgt und dabei auf die Drogen gestossen. Sie wäre damit auch in diesem Fall verhaftet und mit den belastenden Aussagen von A. konfrontiert worden (E. 4.6).

Daraus wird ersichtlich, dass sich hier die Frage der Fernwirkung der Beweisverwertungsverbote gar nicht gestellt hätte.