Urteil vor der Hauptverhandlung?

In der Schweiz ist es nicht unüblich, dass ein bereits vor der Gerichtsverhandlung ein vollständig begründetes Urteil als Entwurf vorliegt. Ob das zulässig ist, ist aktuell am Bezirksgericht Zürich Thema (vgl. Eklat bei G 20-Prozess in Zürich: Beschuldigte verlassen den Saal). Das Bundesgericht hat sich verschiedentlich dazu geäussert, sieht darin aber – zumindest bei Kollegialgerichten – kein Problem (vgl. zuletzt BGE 6B_1178/2019 vom 10.03.2021, Publikation in der AS vorgesehen; bestätigt wird damit ein Urteil des Obergerichts AG):

Vorliegend fand demnach ein ausführlicher Schriftenwechsel statt, von welchem die Vorinstanz vor der mündlichen Berufungsverhandlung Kenntnis nehmen durfte. Dass sie gestützt darauf vor der Berufungsverhandlung mutmasslich bereits einen schriftlichen Urteilsentwurf verfasste, ist nicht zu beanstanden und lässt nicht auf eine Voreingenommenheit des Gerichts schliessen (vgl. etwa Urteil 4A_67/2011 vom 7. Juni 2011 E. 2.2.2). Die Freiheit des Kollegialgerichts, anders zu entscheiden, wird durch einen Urteilsentwurf nicht infrage gestellt. Einem Gericht darf zudem zugemutet werden, dass es trotz Vorliegens eines Urteilsentwurfs noch offen für die Argumente der Parteien an der Berufungsverhandlung ist (E. 1.2). 

Ergebnisoffenheit darf einem Gericht nicht nur zugemutet, sondern v.a. zugetraut werden. Das dürfte es eher sein, was uns das Bundesgericht sagen wollte. Ob das rechtspsychologisch wirklich so unproblematisch ist?

Publiziert wird der Entscheid aber im Zusammenhang mit der Ausschreibung der Landesverweisung im SIS im Sinne von Art. 21 und 24 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation. Vgl. dazu die Medienmitteilung des Bundesgerichts.