Verbotene Mehrfachverteidigung
Aus lauter Sorge um die wirksame Verteidigung jedes einzelnen Beschuldigten, kann die Staatsanwaltschaft Mehrfachverteidigungen verbieten. Dies hat das Bundesgericht nun erneut bestätigt (BGer 1B_611/2012 vom 29.01.2013). Der freien Wahl der Verteidigung (Art. 127 Abs. 1 und 129 Abs. 1 StPO, Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK sowie Art. 14 Abs. 3 UNO-Pakt II) kann das Anwaltsrecht, das Strafprozessrecht und sogar die Parteirechte der übrigen Verfahrensbeteiligten entgegenstehen. Es kann ja schliesslich sein, dass eine wirksame Verteidigungsstrategie in einer Belastung der Mitbeschuldigten besteht:
Um einen Freispruch oder ein möglichst mildes Urteil zu erreichen, kann jede von mehreren beschuldigten Personen versucht sein, mitbeschuldigte Personen zu belasten, womit eine wirksame Verteidigung durch den gleichen Rechtsanwalt nicht mehr gewährleistet wäre (…). Eine solche Entwicklung erscheint auch im vorliegenden Strafverfahren nicht ausgeschlossen. Unter diesen Umständen durfte die Staatsanwaltschaft, ohne Bundes- oder Völkerrecht zu verletzen, anordnen, dass Rechtsanwalt [X.] im Strafverfahren nicht mehr als Rechtsbeistand und Verteidiger des Beschwerdeführers zugelassen werde (E. 2.4).
Dumme Fragen: Was genau ist jetzt die gesetzliche Grundlage für die Beschränkung der freien Wahl der Verteidigung, die Verfassungsrang hat? Und spielt es denn keine Rolle, ob überhaupt eine notwendige Verteidigung vorliegt? Oder geht es vielleicht nur vordergründig um den Schutz der verteidigten Beschuldigten? Und überhaupt: kann es sein, dass die Staatsanwaltschaft für einen solchen Entscheid zuständig ist?
Guten Fragen!
Das Entwurf des SAV für eine neue schweizerische Anwatsgesetz hätte die Genfer Lösung vorschlagen können. Nach Art. 43 abs. 3 des Genfer Anwaltsgesetz ist die Anwaltskomission befugt, Massnahmen um (auch) interessenkonflikte zu lösen:
“La commission du barreau peut prononcer des injonctions propres à imposer à l’avocat le respect des règles professionnelles. En cas d’urgence, le bureau de la commission est compétent pour prononcer des mesures provisionnelles; l’avocat faisant l’objet d’une injonction prononcée par le bureau peut demander que la mesure soit soumise à la commission plénière. Dans ce dernier cas, les membres du bureau participent également à la délibération.”
In BGer 2C_755/2010 (vor StPO) hatte das Bundesgericht entschieden, dass diese Befugung exklusiv ist, so dass der Staatsanwalt kein Recht hat, das Anwalt abzusetzen. In BGer 2C_642/2011 (nach StPO) ist es nicht mehr so sicher (E.2.5.1). Inzwischen hat die genfer Cour de justice entschieden (ACPR/74/2012) dass die exclusive Komptenz gilt wenn es um ein Wahlverteidiger geht, nicht aber für ein amtlicher Verteidiger.
Est ist sehr zu zweifeln dass die in BGer 1B_611/2012 wiederholte Rechtsprechung mit der freien Wahl der Verteidigung und das Fair Trial kompatibel ist.
Im Entwurf für eine neue Anwatsgesetz geht es leider mehr um Anwaltsaktiengesellschaften…