Verfahrensrechte der Staatsanwaltschaft über alles
Dem Bundesgericht sind die Verfahrensrechte der Staatsanwaltschaft wichtiger als die verfassungsrechtlich garantierte persönliche Freiheit des Individuums. Verfahrensgarantien, die wie das Beschleunigungsgebot in erster Linie das Individuum schützen sollen, gereichen zu seinem Nachteil. Nur so kann ich mir erklären, dass das Bundesgericht die immerhin von einem kantonalen Obergericht angeordnete Haftentlassung kassiert, weil sie (noch) nicht begründet war (BGer 1B_42/2016 vom 01.02.2016).
Das Bundesgericht brauchte nur gerade ein Wochenende, um die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gutzuheissen (Eingang der Beschwerde am Freitagabend, Entscheid am Montag). Was es
Art. 112 Abs. 2 BGG räumt zwar der kantonalen Behörde die Möglichkeit ein, ihren Entscheid zunächst ohne Begründung zu eröffnen, wobei aber die Parteien diesfalls innert 30 Tagen eine vollständige Ausfertigung verlangen können und der Entscheid nicht vollstreckbar ist, solange nicht entweder diese Frist unbenützt abgelaufen oder die vollständige Ausfertigung eröffnet worden ist.Im Widerspruch zu dieser Bestimmung, bei noch fehlender Entscheidbegründung, hat indes das Obergericht die Staatsanwaltschaft verbindlich angewiesen, den Beschuldigten bis spätestens am 29. Januar 2016 aus der Untersuchungshaft zu entlassen, woraufhin sich die Staatsanwaltschaft zur genannten Beschwerde ans Bundesgericht veranlasst gesehen hat mit dem Begehren, es sei umgehend wieder die Inhaftierung anzuordnen.Die Vorgehensweise der Vorinstanz vermag den Anforderungen eines Haftprüfungsverfahrens, das sich insbesondere auch nach dem Beschleunigungsgrundsatz auszurichten hat, nicht zu genügen (vgl. etwa BGE 138 IV 81 E. 2.5 S. 85: eine zumindest kurze Begründung müsste innert kürzester Frist eröffnet werden). Bei derzeit fehlender vorinstanzlicher Begründung der Haftentlassung vermag sich das Bundesgericht nicht in die Lage versetzt sehen, die Beschwerde überprüfen zu können, zumal über den Zeitpunkt der vorinstanzlichen Begründung nichts bekannt ist.Nach dem Gesagten ist der Entscheid vom 28. Januar 2016 aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 112 Abs. 3 BGG). Entsprechend bleibt die am 17. Dezember 2015 ergangene Haftbelassungsverfügung des Zwangsmassnahmengerichts aufrechterhalten.Mit dem vorliegenden Entscheid wird das von der Staatsanwaltschaft gestellte Gesuch um aufschiebende Wirkung bzw. Anordnung einer vorsorglichen Massnahme gegenstandslos (E. 4).
Das Urteil enthält folgende zwei Fehler:
Artikel 112 Abs 2 BGG, auf den sich das Gericht in E.3 beruft, lautet:
“… Der Entscheid ist nicht vollstreckbar, solange nicht entweder diese Frist unbenützt abgelaufen oder die vollständige Ausfertigung eröffnet worden ist.”
Das Gericht erwägt in E.3 oben zunächst zutreffend, es könne den Entscheid mangels Begründung nicht überprüfen und kenne auch den Zeitpunkt der Begründung nicht. Es schliesst jedoch daraus fälschlicherweise mit dem Satz “Nach dem Gesagten…”, der Entscheid müsse schon deshalb aufgehoben werden. Das Urteil verletzt somit Bundesrecht: Wäre es wahr, wäre eine Beschwerde gegen eine beschwerdefähige, aber noch nicht begründete Verfügung innerhalb der Latenzzeit schon dadurch begründet, dass die Verfügungsbegründung noch fehle und dass kein Termin für die Verfügungsbegründung bekannt sei. Dadurch würde eine Verfügung, die erst später begründet wird, der Beschwerde stets die Flanke bieten.
Zum Zweiten lautet das Beschleunigungsgebot, auf das sich das Gericht ebenfalls in E.3 beruft (StPO CH):
“Art. 5 Beschleunigungsgebot:
1 Die Strafbehörden nehmen die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss.
2 Befindet sich eine beschuldigte Person in Haft, so wird ihr Verfahren vordringlich durchgeführt.
Das obige Beschleunigungsgebot begründet, wie kj notiert, legal nur Rechte einer Partei, namentlich der des Beschuldigten (“beschuldigte Person”), und verpflichtet nur eine andere Partei, die Strafbehörde. Indem das Gericht aus dem Beschleunigungsgebot im Satz “Die Vorgehensweise…” auch Rechte dieser anderen Partei ableitet, erwägt es ein Recht, das nicht existiert.
Dass das Bundesgericht auf die Beschwerde einer regionalen Staatsanwaltschaft überhaupt eingetreten ist, obwohl nur die obersten kantonalen Staatsanwaltschaften beschwerdelegitimiert wären (6B_949/2013), ist auch noch speziell. Oder übersehe ich etwas?
Sie haben nur den Entscheid 1B_109/2014 übersehen.
Die Beschränkung der Legitimation auf die obersten kantonalen Staatsanwaltschaften gilt nur bei Rechtsmitteln gegen Endentscheide. Bei Rechtsmitteln gegen Zwischenentscheide sind nachwievor die regionalen Staatsanwaltschaften beschwerdelegitimiert.
Wirklich logisch ist die Unterscheidung nicht, die strafrechtliche Abteilung und die öffentlich-rechtliche Abteilung legen das gleiche Gesetz einfach anders aus.
ok, die relevante Passage lautet: “Besteht eine für den ganzen Kanton zuständige Oberstaatsanwaltschaft oder eine vergleichbare Behörde (vgl. dazu Niklaus Schmid, Handbuch des Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, N. 355, S. 128 f.), die innerhalb des Kantons für eine einheitliche Rechtsanwendung zu sorgen hat und Rechtsmittel vor den letzten kantonalen Instanzen ergreifen kann, ist diese allein zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert.” (6B_949/2013 E2.2).
Dem Website des Kantons Thurgau kann folgendes entnommen werden: “Die Generalstaatsanwaltschaft ist die oberste Führungsebene der Staatsanwaltschaft Thurgau und wird durch eine Generalstaatsanwältin oder einen Generalstaatsanwalt geführt. Diese bzw. dieser trägt die Gesamtverantwortung für die Strafverfolgung gegenüber Erwachsenen und Jugendlichen.” (http://www.staatsanwaltschaft.tg.ch)
Die Beschwerde hätte somit richtigerweise von der Staatanwaltschaft des Kantons, hier also dem Generalstaatsanwalt oder der Generalstaatsanwältin (“ist diese allein … legitimiert”), kommen müssen, ein Eintreten des Gerichts war also nicht möglich.