Verfassung gleich dreifach verletzt

Das Appellationsgericht BS hat einen Beschwerdeführer wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren verurteilt. Dabei hat es gemäss einem neuen Urteil des Bundesgerichts (BGer 6B_344/2011 vom 16.09.2011) die Verfassung gleich dreifach verletzt, und zwar in einer Art und Weise, die m.E. schwer verständlich erscheint:

In dubio pro reo: Die Vorinstanz hielt zwei Tatvarianten für möglich:

Die Vorinstanz geht von zwei Tatvarianten aus, weil sich das Geschehen betreffend die Schussabgabe beweismässig nicht zweifelsfrei erstellen lässt. Eine gezielte Schussabgabe in Richtung des Fliehenden wird ebenso für möglich erachtet wie das im Handgemenge unbeabsichtigte Auslösen eines Schusses (E. 2.2).

Das hinderte die Vorinstanz nicht, die für den Beschwerdeführer ungünstigere Variante als bewiesen zu qualifizieren:

Indem die Vorinstanz bei der Fallbeurteilung beide Sachverhaltsvarianten, also auch die für den Beschwerdeführer ungünstige Variante, beibehielt, verletzte sie den Grundsatz “in dubio pro reo”. Der Beurteilung des Falles ist richtiger Ansicht nach einzig die günstige Annahme zugrunde zu legen, nämlich diejenige, wonach sich ein Schuss im bzw. unmittelbar nach dem Handgemenge mit dem Beschwerdegegner unbeabsichtigt löste (…) (E. 2.2).

Anklageprinzip: Die Anklage enthielt keine Umstände, aus denen der Eventualvorsatz geschlossen werden konnte:

Damit wird die von der Vorinstanz der Beurteilung des Falles (ebenfalls) zugrunde gelegte Sachverhaltsvariante in der Anklageschrift – insbesondere unter Bezugnahme auf die Verteidigungsstrategie des Beschwerdeführers – zwar erwähnt, diesem (bloss) dadurch allerdings weder in tatsächlicher noch rechtlicher Hinsicht in der Anklage strafrechtlich formell zur Last gelegt. In der Anklageschrift ist insoweit denn auch mit keinem Wort dargestellt, dass und weshalb der Beschwerdeführer beim erwähnten Einbringen der Waffe in das Handgemenge in Kauf genommen haben soll, dass sich ein tödlicher Schuss lösen könnte. Die Anklage erwähnt zwar wohl die vom Beschwerdeführer ausgestossenen Todesdrohungen, doch zieht sie daraus – mit Recht – nicht den Schluss auf Inkaufnahme eines allfälligen Tötungserfolgs (kantonale Akten, act. 707, Ziff. 3). Ebenso wenig wird in der Anklageschrift thematisiert, welches denn die tatsächlichen Voraussetzungen sein sollen, die in diesem Zusammenhang auf eine Mordqualifikation schliessen lassen würden. Die Anklageschrift wirft dem Beschwerdeführer mithin nicht vor, er habe in Kauf genommen, dass sich aus der ins Gerangel eingebrachten Schusswaffe ein tödlicher Schuss lösen könnte, und sich (auch) bei dieser Variante eines eventualvorsätzlichen Versuchs eines Tötungsdelikts, gar eines Mords, schuldig gemacht. Indem die Vorinstanz bei der von ihr (ebenfalls) angenommenen günstigen – und deshalb ausschliesslich massgebenden – Sachverhaltsvariante aber genau hievon ausgeht, beurteilt sie im angefochtenen Urteil einen Sachverhalt, der nicht formell eingeklagt ist. Sie verletzt dadurch den Anklagegrundsatz (E. 3.2).

Unterlassener Würdigungsvorbehalt: Schliesslich verletzte die Vorinstanz den Beschwerdeführer auch noch in seinem rechtlichen Gehör. Sie hatte dem Beschwerdeführer nicht eröffnet, die (nicht angeklagte) Sachverhaltsvariante auch unter dem Aspekt der versuchten Tötung oder des versuchten Mords zu prüfen:

Selbst wenn die Vorinstanz von dieser Sachverhaltsvariante ohne Verletzung des Anklagegrundsatzes hätte ausgehen dürfen, hätte sie den Beschwerdeführer zwecks Wahrung des rechtlichen Gehörs und aus Gründen der Verfahrensfairness darauf aufmerksam machen müssen, dass sie (auch) bei Zugrundelegung dieses Sachverhalts eine Verurteilung wegen versuchter Tötung bzw. versuchten Mords prüfe und in Betracht ziehe. Aus den gleichen Gründen hätte sie ihm Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen müssen. Diesen Verpflichtungen kam die Vorinstanz nicht nach (E. 3.3).