Verhältnis zwischen Strafe und Führerausweisentzug (ne bis in idem)
Die Schweiz verletzt den Grundsatz “ne bis in idem” nicht, wenn sie einen Automobilisten strafrechtlich sanktioniert und ihm dann in einem separaten Verfahren auch noch einen Führerausweisentzug auferlegt.
Das hat der EGMR unter Verweis auf einen Entscheid der Grossen Kammer (EGMR, App. No 14939/03 vom 10.02.2009, SERGEY ZOLOTUKHIN v. RUSSIA) gestern entschieden (EGMR, App. No 21563/12 vom 04.10.2016, RIVARD c. SUISSE).
Massgebend war zunächst, dass sich die Kompetenzen der verschiedenen Behörden unterscheiden und dass das Strafurteil Bindungswirkungen für die Administrativmassnahme hat, womit beide Verfahren koordiniert sind.
31. En l’espèce, la Cour note que le juge pénal n’est pas compétent pour prononcer les sanctions administratives et que, vice versa, l’autorité administrative n’est pas compétente pour infliger les peines relevant du juge pénal. Chaque autorité a donc à sa disposition un éventail de sanctions distinct qui ne se recoupent pas (voir, a contrario, Sergueï Zolotoukhine, précité). En outre, l’autorité administrative ne peut s’écarter du jugement pénal qu’à certaines conditions limitatives, par exemple des constatations de fait inconnues du juge pénal (paragraphe 13 ci-dessus), ce qu’elle n’a d’ailleurs pas fait en l’espèce. Le principe de coordination des procédures pénale et administrative est ainsi appliqué. Par conséquent, il existe entre les procédures un lien matériel conduisant à ce que les conclusions de l’une entraînent des conséquences directes sur les possibles issues de la seconde, de sorte que le retrait de permis en question s’apparente à une peine complémentaire à la condamnation pénale (voir, mutatis mutandis, Nilsson, décision précitée, Maszni c. Roumanie, no 59892/00, § 69, 21 septembre 2006, et Boman, précité, § 43). Le jugement du Tribunal fédéral du 26 septembre 2011 est d’ailleurs largement motivé sur ce point et sur la conformité du système suisse à la Convention et à la jurisprudence de la Cour.
Nebst dem sachlichen Zusammenhang musste auch noch ein zeitlicher bestehen, den der EGMR im vorliegenden Fall ebenfalls bejaht hat:
32. La Cour note aussi l’existence d’un lien temporel étroit entre les deux procédures, le retrait du permis de conduire du requérant par l’autorité administrative étant intervenu très rapidement après que la condamnation du requérant pour excès de vitesse est devenue exécutoire (Boman, précité, § 43). Au surplus, quant au fait que le requérant n’a été informé de l’ouverture de la procédure administrative qu’après paiement de l’amende, la Cour remarque que ce système dual a été instauré en Suisse par la Loi fédérale sur la circulation routière en 1959 (paragraphe 14 ci-dessus) et fait l’objet d’une jurisprudence constante. Il est également le sujet de débats politiques réguliers. Il est donc largement connu.
Damit ist das schweizerische System der Administrativmassnahmen wohl endgültig EMRK-konform. Unsinnig, aufwändig und viel zu teuer für alle Beteiligten bleibt es allemal.
Und das schlimmste daran ist, dass die meisten, bei denen es das erste Mal passiert, zuerst gar nicht realisieren, dass mit dem Administrativmassnahmenverfahren noch ein Ausweisentzug droht. Die gehen davon aus, der Strafbefehl des Staatsanwalt würde alles bereinigen…. und danach kommt das böse Erwachen.
In einigen Kantonen wird nun wenigstens auf dem Strafbefehl darauf hingewiesen, dass noch ein Administrativverfahren läuft. Wer lesen und verstehen kann …
Nur wer versteht schon, was mit Administrativverfahren gemeint ist, wenn es das erste Mal ist?
Kann ich das Urteil auch so lesen, dass der Grundsatz ne bis in idem wieder “ausgepackt” werden kann, sobald das Strassenverkehrsamt von der tatsächlichen ODER rechtlichen Würdigung der Strafbehörde abweicht?
Spannende Frage. Auszuschliessen ist das m.E. jedenfalls nicht. In der Praxis wegen der Bindungswirkung aber wohl kaum je relevant.
Der Nachweis der Bundesrechtswidrigkeit konnte hier auf mehrere Arten geführt werden:
Nach der Rechtskraft des ersten Urteils (Geldstrafe vom 6. Juli 2010) war die Straftat verbraucht und es lag keine unbeurteilte Straftat mehr vor. Für eine zweite strafrechtliche Verurteilung (und um eine solche handelt es sich beim nachträglichen Führerscheinentzug vom 2. September 2010 auch, wie das Gericht selbst einräumt) für den gleichen Lebenssachverhalt (Geschwindigkeitsexzess des Beschwedeführers am 9. April 2010) war somit in Ermangelung einer Prozessvoraussetzung kein Raum mehr.
Alternativ: Ein Strafbefehl ist eine einseitige Anordnung einer Behörde, die Rechte des Beschwerdeführers verbindlich beschränkt und sich auf öffentliches Recht stützt, also eine Verfügung. Fällt die Behörde eine Verfügung mit einer Einsprachefrist, dürfen im Säumnisfall nur die darin erwähnten Folgen (hier: Geldstrafe) eintreten: Ansonsten kann das Rechtsmittel dagegen nicht informiert wahrgenommen werden. Es trat aber eine andere rechtliche Folge ein (Administrativverfahren mit rechtsgebundenem Führerscheinentzug).
Oder: Weil in der schweizerischen Version von “ne bis in idem” (StPO Art 11 Abs 1) nirgends eine Ausnahme für mehr als einen Strafentscheid für die gleiche Straftat auszumachen ist, ist das Vorbringen des Gerichts, dass beide Strafentscheide (der vom 6. Juli und der vom 2. September 2012) sehr schnell nacheinander gefällt worden seien, Teile eines einzigen Systems seien, mit zwischen zwei Behörden verteilten, gegenseitig sich ausschliessenden Strafkompetenzen, seit vielen Jahrzehnten praktiziert und durch Politikerdebatten weitherum bekannt, logischerweise unbeachtlich.
Schliesslich: Bei einer Aufgabe am Folgetag lief für den Strafbefehl nach 7 Tagen Zustellfiktion, 10 Tagen Beschwerdefrist und Gerichtsferien vom 15. Juli bis 15. August die Rechtsmittelfrist spätestens am 25. August 2010 ab, einem Mittwoch. Der zweite Teil der Strafe und damit deren ganzes Ausmass wurde dem Beschwerdeführer jedoch frühestmöglich am 2. September 2010 eröffnet, also nachdem deren erster Teil bereits rechtskräftig geworden war.
Oder: Die Strafverfolgung kann ein Urteil über 100 Franken Busse nicht aufteilen in einen Entscheid mit “50 Franken Busse” und einen einen Tag späteren Entscheid mit “Nochmals 50 Franken Busse”, ob dies 2x die gleiche Behörde ist oder zwei unterschiedliche Behörden, die jeweils gesetzlich nur 50 Franken sprechen können, und auch dann nicht, wenn dem Beschwerdeführer dieser Ablauf gegen Unterschrift und Abfragen von der ersten Behörde erklärt worden war und seit Jahrzehnten nur Fernsehstreitgespräche zu diesem einen Thema laufen.