Verhältnismässig ist, was im öffentlichen Interesse liegt

In meinem letzten Beitrag habe ich mich sinngemäss darüber beklagt, dass die schweizerischen Gerichte bei der Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Grundrechtsbeschränkungen regelmässig das öffentliche Interesse (Art. 36 Abs. 2 BV) mit der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV) verwechseln. Genau dies scheint auch in einem heute online gestellten Beschwerdeverfahren gegen eine Entsiegelung passiert zu sein (BGer 1B_208/2007 vom 23.01.2008):

Die Vorinstanz erwog, die Anschuldigungen beträfen schwerwiegende Straftaten mit einer hohen Schadenssumme. Es bestehe deshalb ein grosses öffentliches Interesse an der Aufklärung. Vor diesem Hintergrund durfte die Vorinstanz die grundsätzliche Verhältnismässigkeit der Entsiegelung der umfangreichen beschlagnahmten Datenträger und Akten am Wohnort des Beschwerdeführers bejahen (E. 3.6).

Der Beschwerdeführer, dem Bilanzfälschungen vorgeworfen werden, wehrte sich u.a. gegen die Entsiegelung eines Plastiksacks mit der Bezeichnung “Strassenverkehrsamt Kanton H., Festsetzung Entzugstermin”. Das Bundesgericht vermischt auch in den Erwägungen zu dieser Rüge die beiden vorgenannten Voraussetzungen für den Grundrechtseingriff:

Die Verhältnismässigkeit der Entsiegelung des Plastiksacks, dessen Inhalt offenbar aus einem Aktenkoffer stammt, bedarf keiner weiteren Erörterung. Was den Plastiksack mit Akten im Zusammenhang mit einem Führerausweisentzug angeht, kann dem angefochtenen Entscheid im Ergebnis ebenfalls gefolgt werden. Es ist denkbar, dass die fraglichen Unterlagen Rückschlüsse auf geschäftliche Aktivitäten des Beschwerdeführers ermöglichen. Entgegen seiner Meinung liegt es nicht auf der Hand, dass diese Akten keinen Zusammenhang zur vorliegenden Strafuntersuchung aufweisen. Das persönliche Interesse des Beschwerdeführers an der Geheimhaltung dieser Unterlagen vermag das entgegen gesetzte Interesse der Staatsanwaltschaft nicht zu überwiegen (E. 4.3, Hervorhebungen durch mich).

Abgesehen von der Verwirrung um die einzelnen Voraussetzungen von Art. 36 BV kann man mit einer solchen Argumentation natürlich jeden Eingriff rechtfertigen. Wenn ein Zusammenhang zwischen Strassenverkehrsakten und Bilanzfälschungsdelikten als denkbar qualifiziert wird, dann fällt mir jedenfalls kein Beispiel ein, bei dem man einen solchen Zusammenhang verneinen müsste. Zugegeben, das Bundesgericht prüft nur unter dem Blickwinkel der Willkür, aber selbst unter diesem Aspekt müsste man m.E. bei einer richtigen Anwendung von Art. 36 BV zu einem anderen Ergebnis kommen.