Vernünftigen Distanzen an Feiertagen, die eigentlich gar keine sind
Obwohl ein Beschwerdeführer die gesetzliche Frist zur Berufungserklärung verpasst hatte, muss das Berufungsgericht gemäss einem neuen Urteil des Bundesgerichts (BGer 6B_730/2013 vom 10.12.2013, Fünferbesetzung) darauf eintreten. Die Frist endete am Pfingstmontag, der im fraglichen Kanton nicht als Feiertag anerkannt ist. Darüber liess das Bundesgericht zahlreiche Beschwerdeführer stolpern. Nun qualifiziert das Bundesgericht diese (seine) Rechtsprechung präzisierend als überspitzt formalistisch.
Die Begründung lautet wie folgt:
Überspitzter Formalismus wurde mit dem Argument verneint, dass der jeweilige Tag im entsprechenden Kanton nicht gesetzlich als Feiertag anerkannt ist. Zusätzlich wurde berücksichtigt, dass für den Beschwerdeführer die Möglichkeit bestand, seine Eingabe bei einer offenen und in angemessener Entfernung sich befindlichen Poststelle aufzugeben [Anmerkung von mir: das wurde so nicht immer berücksichtigt]. Diese Rechtsprechung ist zu präzisieren. Art. 29 Abs. 1 BV verbietet die strikte Anwendung von Formvorschriften, welche die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (siehe oben, E. 1.3). Dies ist der Fall, wenn die Behörde Fristablauf an einem Tag annimmt, an welchem für die Partei oder für ihren Vertreter keine Möglichkeit bestand, die Eingabe der Behörde selbst oder zu ihren Händen einer offenen und in vernünftiger Distanz sich befindlichen Poststelle oder Postagentur gegen Empfangsbestätigung zu übergeben. Die Möglichkeit, die Eingabe in einen beliebigen Postbriefkasten im Beisein von Zeugen einzuwerfen, genügt nicht. Einerseits kann sich die Beschaffung von Zeugen als schwierig erweisen, andererseits unterliegen diese nicht dem Post- oder Amtsgeheimnis, womit der Betroffene seines Anspruchs auf Geheimhaltung verlustig ginge. Schliesslich wird die Aussage der Zeugen einer Beweiswürdigung unterzogen, deren Ausgang für den Betroffenen nicht voraussehbar ist (E. 1.3.2, Hervorhebungen durch mich).
Damit ist klar, dass das Bundesgericht seine Rechtsprechung tatsächlich nicht ändern, sondern nur präzisieren will. Massgeblich ist neu die vernünftige Distanz zur nächsten Poststelle, die Empfangsbestätigungen ausstellt. Im zu entscheidenden Fall war die Distanz (massgeblich soll offenbar – auch bei anwaltlich vertretenen Beschwerdeführern – die Distanz zwischen dem Wohnort des Beschwerdeführers und der nächsten bedienten Poststelle sein) unvernünftig:
Die Vorinstanz erwägt, dass der Beschwerdeführer sich der Schanzenpost in Bern oder der Hauptpost in Aarau hätte bedienen können, um die Berufung rechtzeitig einzureichen. Diese Poststellen befinden sich ausserhalb des Kantons Solothurn und sind 38 bzw. 56 Kilometer vom Wohnort des Beschwerdeführers entfernt. Diese Distanz kann nicht als angemessen angesehen werden. Die Gelegenheit, die Berufung am Pfingstmontag direkt beim Obergericht einzureichen, wurde im angefochtenen Beschluss nicht erwähnt. Dem Beschwerdeführer war es somit nicht möglich, seine Berufung rechtzeitig und in angemessener Distanz von seinem Wohnort nachweislich einzureichen. Der angefochtene Beschluss erweist sich somit als überspitzt formalistisch (E. 1.3.3).
Ausser dem Beschwerdeführer und seinem Anwalt, für die ich mich freue, ist mit dem neuen Entscheid wohl primär der Rechtsunsicherheit und dem Unmut der früher anders behandelten Betroffenen gedient.
Wen es näher interessiert: seine bisherige Kasuistik zeigt das Bundesgericht wie folgt:
Das Bundesgericht verneinte verschiedentlich überspitzten Formalismus, wenn die kantonale Behörde Fristablauf an einem Tag annahm, den das kantonale Recht nicht als Feiertag anerkannte. Dies auch, wenn am betreffenden Tag Verwaltung und Geschäfte geschlossen waren und niemand arbeitete (Urteile 1P.322/2006 vom 25. Juli 2006 und 1P.184/2001 vom 18. Juni 2001 [Stephanstag im Kanton Solothurn]; Urteil 1P.469/1999 vom 14. Oktober 1999 [Pfingstmontag im Kanton Zug]; Urteil 1P.481/1994 vom 26. Oktober 1994 [Pfingstmontag im Kanton Wallis]; Urteil 1P.440/1992 vom 7. September 1992 [Ostermontag im Kanton Zug]).In einem Genfer Entscheid erachtete das kantonale Gericht eine erst nach Ablauf der Appellationsfrist am Berchtoldstag (2. Januar) eingereichte Appellationserklärung als verspätet. Das Bundesgericht wies eine dagegen gerichtete Beschwerde ab. Obwohl die Büros der kantonalen Verwaltung an jenem Tag geschlossen waren, erwog es, dass die Poststelle von Montbrillant von 12 bis 20 Uhr geöffnet war. Diese befinde sich in angemessener Entfernung der Kanzlei des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers. Die Appellationserklärung hätte somit fristgerecht erfolgen können (Urteil 1P.259/1996 vom 8. Juli 1996 E. 3c, in: Pra 1996 Nr. 217). In einem anderen Fall bestätigte das Bundesgericht ein Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, wonach ein in der Stadt Zürich wohnhafter Beschwerdeführer am Berchtoldstag – unabhängig davon, ob dieser dort als Feiertag gilt – die Möglichkeit gehabt hätte, seine Eingabe rechtzeitig an der Zürcher Sihlpost aufzugeben. Diese sei am Berchtoldstag von 10 bis 22.30 Uhr geöffnet gewesen und 2,5 bis 3 Kilometer vom Wohnort des Beschwerdeführers entfernt (Urteil 1P.456/2006 vom 24. Oktober 2006 E. 2.3) [E. 1.3.2].